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Die göttliche List – ein Purim Schpiel (Entwurf 1)

Prolog

DER NARR: Seht her, die Bühne ist heut’ zaubertoll
von finst’ren und von listigen Gestalten.
Wir alle sind verwandelt, uns’re Gläser voll
nicht nur vom Wein, auch weisem Rat der Alten.

Ich bin’s, der Narr, der scheinbar nur ist närrisch,
der euch erzählt ein lehrreich’ Maskenspiel,
wie man sich wehrt dagegen, was sich herrisch
gegen uns gewandt und gegen Menschlichkeit als Ziel.

Nicht nur zur Zeit in Persien gab es nichts zu lachen,
auch heut’ noch gibt es welche, die zum Eigennutz
nach and’rer Wohl und Leben trachten,
verborgen hinter neuer Mauern Schutz.

Doch seht, wie man mit gottgegeb’ner List
und ohne jed’ verschlag’ne Tücke
am Ende doch derjen’ge ist,
der lachend schließt die Trauerlücke.

Denn wer zuletzt lacht, lacht am besten
und trinkt den Kelch zur Freude leer –
mit Feinden, die geworden sind zu Gästen,
wenn wir uns machen nicht das Leben schwer.

Die Verschwörung

AHASVEROS: [sichtlich trunken] Ich bin Ahasveros, ein guter König,
weil vielen alten Wein ich hab’ in neuen Schläuchen.
Ich schenk’ ihn gern euch allen ein und stöhn’ nicht.
Doch wenn er schwappt in meinen schwang’ren Bäuchen,

geschieht’s, dass man mir Trunk’nem flüstert ein,
dass solcher Wein doch fließe nicht genug,
wenn Fremde gössen sich davon in uns’rem Lande ein.
Die tränken einfach mit und solches sei Betrug.

HAMAN: [diplomatisch säuselnd] Wohl wahr, mein König, an eurem Busen saugen
Schlangen mit, ein schlimmes Volk von Bettlern.
Die wollen uns und uns’ren Wohlstand auszerlaugen
und machen ohn’hin überall nur schlechtes Wetter.

So bin ich dir ein treuer Diener, wenn ich empfehle:
Ich schaff’ sie dir vom Leib durch Mauern, die sind Mord.
Wir lassen keinen rein in deine Hofgefilde,
und wer doch kommt, den jagen wir gleich fort.

DER NARR: So sprach der Satte (einst wie heut’) sich selbst
und seinem König aus der schwarzen Seele.
Und lauschst du auf den Straßen: es gefällt
so manchem, dem der Hass so heimlich schwelte

in vom Wohlstand stolz geschwellter Brust.
Und jene riefen: Ja, wir haben nichts zu teilen,
schon gar nicht uns’re feiste Lust.
Woher die kamen, da sollen sie auch bleiben!

Und so geschah’s, Ahasver folgte falschem Rat.
Und so geschieht’s noch immer heute in Europa,
jener Festung, die dem Mitmensch gute Tat
verweigert und aussperrt all die „And’ren“ aus Utopia.

Die erste List

MARDOCHAI: [im Bettlergewand vor Ahasveros tretend]
Ein solcher bin ich, der hier vor euch tritt,
nicht euren Wein, doch euer Mitleid achtend.
Bevor ihr zum Gesetz erweitert jenen Schritt,
bedenkt, dass and’re als wir euch nach dem Leben trachten.

Es ist zum närrisch Werden, was geschieht!
Lasst euch darum nicht von den falschen Zungen narren.
Vielmehr erkennt, wie Narren, den’n die Narrheit flieht,
euch vor dem Irrtum woll’n bewahren.

AHASVEROS: Was willst du, weiser Mann, mir raten?
Dass ich auf dich hör’ statt Vertraute?
Zu trunken bin ich wohl, dass solchen Taten
nicht folgen sollte, was solch’ „Whistleblow“ verlautet.

Man kleide dich in meine Kleider, und setz’ dich auf mein Ross.
Für’s erste glaub’ ich dir, mein trauter Freund,
doch ist, was aus der Flasche in mich floss,
noch keine Träne, die dir nachgeweint.

Die zweite List

DER NARR: Tja, so sind die Herrscher, deren Hintern
breit sitzt und schweißig klebt auf Plüschgethrone.
Sie wissen, wie zu überwintern,
solang’ vom Sommerwein sie haben einen in der Krone.

Allein: Obwohl dem Haman solche Abfuhr ward erteilt,
der Schlimme lässt noch lang’ nicht locker.
Er volksentscheidet landesweit
und steigt als Demagoge auf den Hocker.

Das Wandervolk, es passe nicht auf Blut-und-Berge-Erde,
es sei die Plage, die es auszutilgen gilt.
Und ach, er findet in des Heimatvolkes Herde
so manches Schaf, das blökte breit auf seinem Schild.

ESTHER: Doch noch ist unser Tage Abend nicht.
Ich hab’ noch eine List, die wie einst Josef bei dem Pharao
uns kann des Herrschers Gunst verleih’n Gewicht.
Wartet ab, denn jetzt kommt meine Solo-Show! [tanzt]

AHASVEROS: [noch trunkener] Wer bist du, Schöne, die mich so betört?
Von woher stammt dein überhübscher Arsch?

ESTHER: Ich bin aus Juda, dem ich nicht abschwör’,
aus jenem Volk, das du verfolgst so harsch.

Doch sag’, wenn ich dich wie der Wein berausche,
der auch nicht auf den deinen Hängen wächst,
was ist dann wert dein Ohr, das Haman lauschte,
der dir allein den Speichel, doch nicht die Tränen leckt?

AHASVEROS: So sei’s, dass ihr hier lebet und befruchtet
unser karg’ Gebirge zu dem Paradiese,
wo nur des Gotts Natur die Täler schluchtet,
doch nie ein Mensch den Mensch vertriebe.

Epilog

DER NARR: Die Narren, nicht die Herren haben Oberwasser,
all die Träumer von der bess’ren Welt.
Sie träum’n nicht nur, sie sind Erb-Lasser,
dass ein jedes, wo es ist, sich wohlgefällt.

Das war der Auftrag uns’res Gottes, als er uns
die Liebe, nicht den Hass und Neid hat eingegeben.
Und dazu noch die seines Reimens Kunst,
der wir uns einverstanden haben hingegeben.

Und schaut, habt Gott ihr darin je gesehen?
Auch er hat sich zum Purim-Fest verkleidet,
sein Wirken, von dem Her zum Hin zu gehen,
satyrhaft und wie ein Flüchtling sich verschleiert.

So ist das Fest, das wir heut’ feiern,
ein Fest der Liebe und – der List,
die manchmal, uns von Lästen zu befreien,
muss Licht sein über finst’rer Zeiten lange Frist.

Links:
Infos zum jüdischen Purim-Fest
Das Buch Esther
„lern! denk! schieß!“

Inhalt 04/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2013 erschien am 14. Januar 2014.


In dieser Ausgabe:
Drohnen und Schreibwerkzeuge, lachende Möwen und revanchierte Narben, die Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert, alte Bäcker und Krötenschleudern, Lektorate ausgeschickter Fäden, Daniel Odija und Rainer Maria Rilke, schlummernde Brunnen und Glockenumzüge, die lefzenden Felle des Francisco Goya, Wandertriebe und Sitzen auf Bänken, Baldrian extra-stark und Kondome, Originalmeisen, Bootcamps, das Gewesene uvm.

INHALT:

Dächer Neapels (2). Entwurf.

Zu Seiten der schroffen glatten
Steine aller Gassen quillt
an grauen und von Sonne matten
Mauern, noch als Rest gewillt

zu harren, bis zur Abfuhr ungestillt
vom Hunger, den sie hatten,
wahrem und einem, der noch wild
bleibt in längst satten

Leuten, ihrer, nach dem Rosa, Gier,
nach Süße, Staunen, milden Schatten
und tiefester Erfüllung hier,
der Müll:

Kartonagen, Pappen, Packen,
Essensreste, Roste, Schleifen,
Dosen, Becher und, in Placken,
Rotze an den Einwegflaschen;

Windeln, Reifen,
das Profil in wüsten Zacken
eingeschnitten, und in Streifen
Drecktuch, ausgediente Jacken;

Kanister, Kläe und Gegüll;
ausgerupfte Kissen, schimmlige Matratzen
und Steinschutt abgeladen; implodierte
Röhren, Fischabfall für staupe Katzen;

Kondome, trockne, und verschmierte
Fotos einst Geliebter – àh!:
wie sich die Nähe invertierte –
il brodo della povertà.

Dächer Neapels 1 <<<<

EIN EXEMPEL DER FREIHEIT („Die Geste des Malens“)

„Wir sind nicht allein in der Welt und wissen davon, weil rings um uns die Gesten der anderen auf uns deuten. Dieses Deuten ist eine Tätigkeit und zugleich ein Vorwegnehmen des Getanen. Die Grammatik erschwert die Formulierung des Umstands, dass Bedeutung ´haben´ und Bedeutung ´geben´  synonym sind. Aber die Betrachtung der Geste des Malens umgeht die grammatikalische Hürde. Das zu malende Gemälde ist die Bedeutung, welche die Geste ´gibt´, indem sie es macht, und ´hat´, indem sie es vorwegnimmt. Der Maler verwirklicht sich in der Geste, weil darin sein Leben jene Bedeutung bekommt, welche sie gibt, und sie gibt sie durch Pinselstriche, Fußbewegungen, Augenblinzeln, kurz durch die Bewegung des Deutens. Die Bewegung des Deutens ist nicht selbst  ´Arbeit´, sondern der Entwurf der Arbeit. Und doch zielt die Bewegung des Deutens auf ein Verändern der Welt und hat es zur Folge.“
Vilem Flusser: Die Geste des  Malens

Ff. der Serie: „Gesten

„Mein Vater handelte schnell und unerbittlich. War er mir in den letzten Monaten immer schwächer und hinfälliger erschienen, so wuchs er jetzt über sich hinaus. Seine Wangen röteten sich, seine Hände griffen beherzt zu, sein Schritt wurde ausladender. Hinter seinen hohen Stirn arbeitete es unablässig, während er an jenem Abend nach dem Zusammenbruch noch dem gemeinsamen Abendessen präsidierte, als sei nichts geschehen. Dorotheas Stuhl indes war leer geblieben. Nachdem er sein Dessert, eine hervorragende bayerische Creme, wie wir sie erst durch die neue deutsche Köchin, die von Dorothea eingestellt worden war, kennengelernt hatten, bis auf den letzten Rest ausgelöffelt hatte, wandte er sich mit fester Stimme an mich: ´In einer Stunde möchte ich dich in meinem Arbeitszimmer sehen. Bis dahin werde ich meine Entscheidung treffen.´

Zu jener Stunde war es mir gleich, was mit Dorothea und dem Kind geschehen würde, das sie unter dem Herzen trug und das ich gezeugt hatte. Ich dachte nur an Sofia und wie ich sie zurück gewinnen könnte. Daher betrat ich das Arbeitszimmer meines Vaters ohne jede Scheu. Ich war mir der Schuld bewusst, die ich auf mich geladen hatte, aber noch immer erschien mein Handeln mir als eine gerechte Rache. ´Die Deutsche verlässt noch zur Stunde mein Haus. Sie geht nach Stettin, wo ich sie fürderhand bei deiner ehemaligen Amme unterbringen kann. Dort wird sie auch das Kind zur Welt bringen. Später…´ Sein Blick traf den meinen und das Unerschütterte meiner Haltung muss ihn erschrocken haben. ´Sollte ich mich täuschen, mein Sohn, und dir Unrecht …“  Ich unterbrach ihn rasch: ´Es ist alles, wie Sie es vermuten, Vater.´ Er schluckte. Dann riss er sich zusammen. ´Ich verlange Stillschweigen, wie du dir denken kannst. Auch du wirst mein Haus verlassen.“ Selbst das schreckte mich nicht, denn meine Gedanken kreisten weiterhin unablässig nur darum, mit welchen Worten, welchen Beteuerungen ich Sofia umzustimmen vermöchte, der ich schon morgen auflauern wollte auf allen ihren Wegen durch die Stadt. „Ich schreibe deinem Onkel in Odessa und bitte ihn darum, dich aufzunehmen.“ Zum ersten Mal horchte ich auf. Ich erkannte Vaters Plan: Sie an die Baltische See und ich ans Schwarze Meer. „Du bist frei, solange du diese deutsche Hure nicht wiedersiehst, die ich in mein Haus geholt habe. Verzeih mir, mein Sohn, dass ich dich der Verführerin aussetzte.“ Er gab mir die Unschuld zurück mit diesen Worten, mein Vater, und ein Exempel der Freiheit. Er ließ mich die Welt sehen, wie er sie sehen wollte.

Noch in dieser Nacht folgte ich in einer Mietkutsche Dorothea nach Stettin.“

Schellendiskursli / Schellenexkursli (02)

Schellendiskursli, Szene 02

dass welt ein bilderbuch sei voller
bilderbücher hier das setting einer
kleinfamilie knapper stunde null gewisser
religionen schöpfungsakt (breit aufgestellt) von
heiligen familien muttern (rot) und vatern in
dezentem (grünen) blau stolz jakobinisch heisst
dann (logisch) nachwuchs bärchen
ursli das archivgesicht noch aus der
andern zeit ein buch in buch im buch
ein jesus sternbild wunschpunsch aller pärchen

was kann ein haus nicht alles sein als
buch als allegorisch fein gedachter ort erzählter
klein und grossgeschichten keller eingang
tore fenster öffnungen in die zu schauen lohnt
schornstein und vater raucher einer tuts
der andere nicht in diesem nu das
hausgesicht ornamentiert partiell kopf hirn und
heimat weiter namenloser elternschaft fungiert
reproduktion noch grösserer maschinen ich ist
eine werkstatt medien (dort ein vogel) tun dies kund


Zeichnung: Livio (7)

Schellenexkursli

(02) psyche, speicher, medien. mit dem willen zur kreativen interpretation ausgerüstet, werden wir wieder zurückgeworfen auf die gemachtheit dieses ereignisses und ortes als vielschichtigen text. in die buchform, die alle noch so auseinanderstrebenden (be)deutungsmöglichkeiten miteinander verbindet und rundet. ein buch schafft ordnung und zuversicht. sich die welt als buch vorzustellen (aurelius augustinus), gibt ihrer lesbarkeit einen rahmen, der die richtigkeit des passierenden unterstreicht. dass das urslielternhaus ornamente trägt (spiralen, tiere), die hier schon in versatzstücken später erzähltes enthalten, betont die wichtigkeit tiefenstruktureller beobachtung. dass wir geradezu mit einer familienaufstellung (nach hellinger) konfrontiert werden, einer methode der systemischen psychotherapie, ermuntert uns, den text auch psychoanalytisch zu berühren. er bietet dann mutter- und vaterfigur an zur identifikation und zum eintauchen in die struktur der kleinfamilie, und markiert diese als ausgangspunkt eines sich in auflösung befindlichen systems, auf dem weg zu einer neuen westlichen gesellschaftsform: dem losen verbund einer singlegesellschaft. aufsteller ist hier: der erzähler. kann dabei die farbwahl des bildes zufall sein? die mutter trägt die farben blau, weiss, rot – diejenigen der französischen revolution, wir nehmen das als stützenden beleg. historisch-strukturelle diskontinuitäten sollen aber nicht verschwiegen werden. ebenso finden sich auch: die heilige familie mit dem filius jesus, der vater (josef), ein handwerker (zimmermann). das haus ist der ort der heimat, der sohn zum reisen bestimmt. diese religiöse familia steht als literatur und als entwurfsvariante der psychoanalytischen gegenüber. gemeinsam werden diese bilder gespeichert in einem, dem literarischen archiv, und haus und umgebung zu dessen allegorie verdichtet: die menge der öffnungen, räume, auch als speicherfiguren unterschiedlichster situationen und handlungen. (im verhältnis zum kleinräumigen maiensäss, später, dem erweckungsort und ort der entbehrung:) wir nehmen einblick in ein raumgebilde, dessen reduktion eingeleitet werden muss, um (in der ausbreitung, in der narration) neues erzählen zu ermöglichen. das haus (mit seinen funktional unterschiedlichen teilen) fungiert aber auch zugleich als konstruktionsplan oder modell eines gehirns, in dem genau diese auseinandersetzungen und verhandlungen theoretisch stattfinden. das bild (mit haus, eltern etc.) wird zudem nicht perspektivisch abgeschlossen. ein – als randfigur – hinzugefügter vogel observiert diese szene. unsere beobachtung des vogels (als medium) macht uns leser zu beobachtern des beobachters. wir werden also auch als beobachter zweiter instanz verpflichtet. nur eine spielerei? zumindest drängt uns diese konstruktion eine weitere möglichkeit auf: nämlich die einer systemtheoretischen textbetrachtung.

Leseprobe zu:
Schellendiskursli / Schellenexkursli.
Eine poetische Analyse des “Schellenursli”
mit einem Kommentaressay
und zahlreichen Illustrationen
sowie einem Nachwort von Elisabeth Wandeler-Deck
Von Hartmut Abendschein

Hinterhoffrühling Berlin. (Entwurf).

Auf dem Hinterhof blüht er, der Flieder
wieder
Prall schießt aus Grün das Weiß und Violett
Fett
sind die Dolden und geil

wie schon zu Benjamins Zeiten
der Seiten
ums Jahr Neunzehnhundert
Das wundert,
doch keinen, das Seil

das für die Wäsche
auch fesche
der Höschen noch immer gespannt
Wand
zu Wand ist. Und Holz für Gesäße

steht für die biederen Leute
noch heute
Der Grill und der Tisch und die Besen
wesen
für Jause und Klause und Späße

Und immer noch singt die Amsel keck
Leck
sprüht der poröse Schlauch
er auch
auferstanden. Am Stamm lehnt ein Beil.

Seien uns freiere Tage gegeben
und Leben
als damals, und frei gewählt der Tod
– so tulpenrot
daß kein Frühling sich jemals vergäße.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-12

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-28

AMUR IM SCHNEE („Wer gezeichnet ist, entkommt nicht.“) Entwurf

Sie lag als eine Schlange im Schneegestöber. Lag so als schönheitsgewundene Linie schimmernd wie ein Geschmeide und wartete. Die neue Haut war ihr erwachsen, Schuppe für Schuppe, und hatte das Muster ausgebildet, von dem sie vor langer Zeit geträumt hatte, die helle Kreuzesform auf dunklem Grund. Wer näher käme, wer sich hinabbeugte, der erst sähe, dass jenes Muster sich wunderbar aus einer Vielfalt und Buntheit ergab, die von weit oben, wo der Kontrast zwischen dunkler Linie und weißem Schnee das Auge täuschte, nicht auszumachen war. Die S., wenn sie sich diesen Blick, wie er sich näherte, vorstellte, erschauderte, denn es war unvermeidlich, es war gewiss, dass einem solchen Blick die Berührung folgen würde, die sie so still und doch so gierig ersehnte. Sie war dieTreppe hinabgeglitten, zwischen den hohen Eichen hindurch, die den hinteren Teil des Gartens im Sommer verschatteten, aber jetzt, unbelaubt, wie in grausiger Anklage ihre düsteren Finger gen Himmel streckten. Sie lag und wartete auf freier Fläche zwischen den Bäumen, in der Nähe des Sees. Der Himmel so hoch und leer über ihr. Von dort würde er kommen:  Entdeckung, Schau, Angriff, Zugriff. Ich habe deine Stimme gehört: Du bist so schön. Lange bevor ich zustoße, spürst du mein Begehren. Ich bin dir unter die Haut gegangen. Ich bringe dich zum Blühen. Sie ringelte sich, so sehr erregte sie die Erinnerung an diesen Traum. War es ein Traum gewesen? Sie hatten nach ihr gesucht. Der Doktor hatte es verraten. Er hatte es nicht zugegeben, aber seine niedergeschlagenen Augen hatten ihn verraten. Amur. Die schwarze Drachin. Pernis, mein scharfschnabliger Räuberherr. Wie sie einander geflohen waren seit damals. Sie war getaucht, sehr tief. Dass ich ein Seeungeheuer bin, hattest du vergessen. Wir müssen aufpassen. Dass uns keiner auf die Spur kommt. Die Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte, als sie zum See hinunter geschlichen war, wehte der Wind in gehorsamer Eile zu. Wieso hatte sie geglaubt, es beenden zu können. Wer gezeichnet ist, entkommt nicht.
Die Pfleger fanden sie im Morgengrauen, völlig unterkühlt. „Es ist ein Schub.“, sagte Dr. H., als er den Ärmel ihres Nachthemdes nach oben schob. „Wie konnten Sie das übersehen.“ Hanna versuchte sich zu rechtfertigen. Doch er hatte sich schon von ihr weggedreht. Die Patientin wurde auf die innere Station verlegt und sediert. Zu ihrer Sicherheit blieb sie, wenn niemand bei ihr im Raum war, mit Ledergurten ans Bett gefesselt. „Kein Risiko mehr an dieser Stelle.“, wies H. das Personal an. „Es geht hier um mehr als die Gesundheit dieser einen Patientin.“ Dennoch er verbrachte fast den ganzen Tag schweigend im Sessel neben dem Bett der S. Er hätte gern ihre Hand ergriffen oder ihr über die blutig verschorfte Haut am Unterarm, der über die Kante schlaff herabhing, gestrichen. Doch traute er sich nicht und das war gut so.
(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)

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Der Geruch der Angst Des Kaisers neue Kleider Es rauscht so kalt in meinen Adern Salzwasser ist Poesie Übertragungshäute (Verlorene Fiktionen) Pernis und Armur

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-14