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Farah Days Tagebuch, 17

Sonntag, 20. Oktober 2013

(Seit neun Tagen schizophren, danke, gut)

[… ] weigerst dich einfach zu sehen, dass ich es nie wagte, zu glauben, dass es auf mich ankäme. Musste mir das immer von anderen leihen, von dir zumeist, von Hütern, von Fremden. Niemand ist, wo ich bin. Ich, das sind immer die anderen; wer wüsste das besser als
– Du?
Nein, Du!
Wie läppisch wir sind.
Nehmt uns was weg, damit wir zu schreien lernen.

Liegt die Kraft wirklich im Mitfühlen und Einmischen? Außerhalb der Käfige und Bühnen tobt der Stellungskrieg, nur die Aufklärer haben bei uns einen guten Job, alle anderen verheizen sich. Niemand aus dem Dazwischen kommt jemals irgendwo raus; es gibt kein Raus.
In meinem Kopf die Stimme, immerzu leiert sie: compare, compare, compare, stunden- und tagelang, wieso sie Englisch spricht, ist mir nicht bekannt, viel weniger noch, mit was denn zu vergleichen ich aufgefordert werde. Mein Kopf ist ein bootcamp.
I would prefer not to
(love you, Bartleby)

Wir schaffen uns Meisen an in der Hoffnung, die würden die Originalmeisen neutralisieren, nicht wahr, Kampfmeisen, gewollte, stilisierte, getunte Meisen, die darüber hinwegpiepen sollen, wie verkorkst wir schon waren, als wir noch gar nichts dafür konnten

Käfige und Bühnen baue ich euch, sehr kleine. Sie kommen im Doppelpack, ein Käfig und eine Bühne, hängt sie nebeneinander ins Schlafzimmer, von der Decke. Sie sind leer und leuchten im Dunkeln. Nur so als Erinnerung.

„Hab’ ich jemals…?“
Noch so ein Satz, den ich nicht mehr hören will!

Ich hingegen liebe einen, für den wäre etwas Lebendiges zu unterlassen die größte Sünde von allen; er würde alles tun, nein, er wird alles tun…
Lass ihn.
Mach ich doch.
(„… Hast du heute schon über das Wort „immerzu“ nachgedacht?“)

Ruhe, Ihr. Was seid ihr nur für ein Pack, immer noch vom Fruchtwasser weichgespült, ich kann’s nicht mehr hören. Leckt euch endlich trocken. Scheiß Memmen. Echt aber.
Alles ist Botschaft! Alles! Wie solle eine das aushalten? Wie mache eine, dass sie nicht überglüht, vor lauter?
Indem sie formt!
Ah… das große Multilind, den letzten Eisbrecher, die getarnteste Kappe, such’ dir was aus. Es gibt kein Draußen, versteh’ das doch endlich, mein Dappes, du bist der Universalerneuerer, bist Teer und Federn, die Original- und die Kunstmeise. Vergolde dich.

– Hä?

Ich spreche von Wertschätzung.
– Ich nie!
Das ist es ja. Da liegt der Hase im Pfeffer und dort, leider, gefällt es ihm einfach zu gut, obwohl er eine blutige Nase hat vom Niesen, seit Jahren schon.
Hört’ mit den Scheißtiervergleichen auf. Denkt doch an alle diejenigen, denen es schlechter geht als euch, denkt daran, wie scheißunfair die Scheißressourcen verteilt sind, manche kriegen nur Neins ihr Leben lang und selbst das Nein müssen sie bewachen! Ihr suhlt euch in euren Pri

Halts Maul.
Okay, lasst uns erstmal frühstücken.

Comparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecompare

Circe, poetisch ODER Katharina Die Zauberin Schultens im Ausland, Berlin.

sag das den wispernden gespenstern mein herz
meine arbeiter werden es dir danken
und laß die hosenträger oben
und laß die jacke: an

Katharina Stevens, Samarium

Das beschäftigt mich weiter. Dabei hatte mich Sabine Scho >>>> schon vor zwei Jahren gewarnt und vor zwei Tagen deutlich nachgelegt: „… mir ist nach gürteltierfunktion, einrollen wollen“, schrieb sie mir bei Facebook, „aber trotzdem schön, wenn Sie auch zum Scheitern kommen wollen, die großartige Katharina Schultens liest ja auch!“ Nun ist mir, dem formal Konservativen, gegen neue Lyrik eine gewisse Skepsis eigen, für Romane bin ich leichter zu >>>> entflammen; auch wenn ich neue Gedichte gut finden kann, ihnen folgen und sie verstehen kann, bleibt meine Begeisterung meist kühl: rein intellektuell; ich sehe und höre das Spiel sehr wohl, es ist aber nicht meines, mein poetischer Körper läßt sie nicht rein, sondern draußen, als Objekte, vor der Seelentür stehen, die ich zwar öffne, wenn geklingelt wird, und ich spreche dann mit ihnen, vielleicht biete ich ihnen sogar einen Kaffee an, aber bringe den Becher raus auf den Hausflur. Ich habe Vorbehalte. Genau das zog mir gestern abend >>>> im Ausland den Boden unter den Füßen weg. Wahrscheinlich hatte ich ein Fenster offenstehen lassen in meiner mir vermeintlichen Sicherheit, so, wie es immer offensteht, wenn es draußen nicht allzu sehr stürmt; es stürmte aber, nur hatte ich an ein Gewitter, das aufzog, nicht geglaubt. Es kam auch so leise, erst nur als Erscheinung: schlank, hochgewachsen, filigran, das Stürmenwollen hinter einer viel zu großen Brille versteckt, aber die Knöchel allein der rechten schmalen Hand, die sich ums Mikrophon legte, hätten mir schon vor dem Sirenengesang die Ohren verschließen sollen, nur weg, nur weg, am Steuer festgebunden die Schären umschifft, von denen es durch das Fenster aber hereinklang:
ich hob die arme fuhr mit allen fingern tief ins haar
und aktivierte probehalber diesen einen blick
ihre zungen blitzen nur einen moment
unterhalb der ohrläppchen hervor
denn das genügte
Ja, das genügte. Es ist das Schlimme an den Sirenen, daß, hat man sie einmal gehört, jede Faser des eigenen Körpers auf sie konzentriert wird; man hört nicht mehr nur noch akustisch, sondern hört mit den Zellen der Haut, hört mit dem Haar zu; es hören die Organe:
morgens wenn es dämmerte ging ich gewöhnlich tanzen
es gab einen club der wechselte die treppenhäuser
Der Vortrag, wiewohl dunkel grundiert in der Stimme, hebt sich ins Licht an, das schwirrt und vermittels einer so feinen Grausamkeit perplex macht, daß man sie weiter- und immer weiterspüren möchte, ja zu der Tatze wird, in die sie sich einbohrt:
ich tanzte mit einem kollegen im bärenkostüm
ich trug die stiefel noch aus dem büro

und wenn ich mich drehte bohrte ich den absatz
immer genau zwischen die zehen seiner tatzen
Doch aber nicht nur sie dreht sich, sondern die Aussage auch, so daß man wie wachgeklatscht dasteht:
und wenn die drehung dann vollendet war öffnete
ich meine lider schließlich war ich noch im praktikum
Verdammt, man wurde erwischt! Sie aber, Circe, dreht sich aufs neue, nun aber in ihr Ältestes zurück:
man hatte mir zwei schlangen zugestanden vor dem bereits die erste Strophe des Gedichtes unmißverständlich gewarnt hatte:
die wände waren reine screens
und nichts wurde vergessen
Schuld, Verhängnis, Verfallensein – alles gerät in den Strudel, der den Odysseus hinabsaugen will, ohne daß die Sirenen ihn, den Ozean, umrühren müssen; sie ändern nur unsern Kurs, locken mit sicher Scheinendem, Zahlen, Begriffen, Statistiken, Positivismen, auf die wir uns männlich verlassen:
kaum denkbar rauszugehen. glaubte wir stünden vorm büro
und hingen doch – einsehbar – gespickt auf der anzeige dort.

ich hatte unsere größe vergessen und die relation
unserer größe zu der des geschehens. ich will aus.

raus hörten wir. eine nach dem anderen ging
und wechselte den stamm und dachte

x habe das system verlassen. Allein schon dieses „eine nach dem anderen“! Wie elegant die Geschlechtercorrectness gelöst ist, befolgt und zugleich unterlaufen… Wie berauschend sich jede Komposition aus kalkulierter Verfügung über die Mittel in sensibelste Empfindung verwandelt, wie aus den technischsten Termini Seufzer werden können und Sehnsucht und Klagen einer von vornherein vergeblichen und so auch gewußten Hoffnung, zum Beispiel in „Prism“, was bereits ein Wortspiel ist, weil der Vortrag aus Prismen Gefängnisse macht:
wenn du mich suchst wo suchst du. suchst du mich im feld oder online.
suchst du mich treppab suchst du mich in meiner statusmeldung.
Weißt du
wie mein filter funktioniert. Weißt du welche standardeinstellung ich
wählte.
Doch damit nicht genug, daß sie den Social Networks genau die Seele g i b t, an die deren User so unbegriffen glauben, strömt sie sich wie persönlich, ganz persönlich da hinein und wird geradezu intim, weil gebethaft, Zwiesprach‘ mit dem HErrn:
(-/-/-/.) bitte lenke mein licht. bitte laß mich dich
kennenlernen. dein wille geschehe. dimitte debita nostra
(nobis!) und wenn ich niemand das geringste vergebe

so laß mich dennoch nicht allein Dazu eine Vortrags-Professionalität, die ganz nebenbei, fast, als wollte sie die Gedichte zurücknehmen, mit der eigenen Referentialität, der des auftretenden Selbstes, spielt: „Dieser Text funktioniert nur auf der großen Bühne, hier geht er schief“ – und trägt ihn gerade deshalb vor, diese Fingerknöchel, diese Fingerknöchel! und ich möchte hinter die Brille dieser Brillenschlange sehn, was sie versteckt, die eine von den beiden, die man der Zaub’rin „zugestanden“, die andre windet sich als Taille um die Taille hinauf und wird zum Hals, zum Zweig, so hat >>>> der alte Kaa all die Affen betört, als die wir in dem Raum sind – Reflexe der Tiere in Architektur, von denen Sabine Scho vorher vorgetragen hatte: bei ihr fast immer Dichtungen von Gefangenheit, bei Schultens aber einer Befreiung nach innen, glühende Transzendenz:
schatten schönster. allerliebster
treuloser idiot. du hast den zustand
unterschätzt. es steht so schlimm du bist
ein manifest inzwischen. schwimmst

nicht oben hast zu wenig masse um
zu schweben und du sinkst weil du
ein stein bist der vergessen hat daß er
ein schwarzes loch spielt in der nacht.
Oh, ich vergaß das Wachs in den Ohren. Jetzt lenk ich das Schiff – und Sie auf ihm – in den Abgrund der Sprache, denn ich hatte das Unglück, G e d i c h t e zu hören – reine Gedichte, die unsauber sind: so irdisch, daß ich ihnen die Brille abnehmen will, die sie schützt:
bitte entlaß mich in methodenlosigkeit
bitte erlaube mir ein ungewaschnes kind
bitte versteh meine bilder miß zu identität
bitte finde mich: bitte finde mich nicht

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[Die hier besungenen Gedichte entstammen einem noch
unveröffentlichten Buch >>>> dieser Dichterin .
Vorherige Publikation:

>>>> Bestellen.

Franz Kafka trifft Friedrich Nietzsche

Die wohl im Januar 1917 entstandene Erzählung Die Brücke von Franz Kafka (Titel von Max Brod) knüpft mit einiger Sicherheit direkt an das von Friedrich Nietzsche verwendete Brücken- bzw. Seilgleichnis an. (Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. / Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. / Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein  Ü b e r g a n g  und ein  U n t e r g a n g ist. [KSA 4, S.16f.]) Kafka nimmt ohne viel Federlesens das Gleichnis Nietzsches wörtlich und behauptet das ganz und gar Unmögliche im Duktus eines Berichts. Die Geschichte beginnt folgendermaßen:

“Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich in dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. So lag ich und wartete; ich mußte warten; ohne abzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören Brücke zu sein.”

Zunächst einmal fühlt sich der (heutige) Leser an den Beginn des Romans Das Schloss (entstanden 1922, erschienen 1926) erinnert, wo es auch um eine Brücke geht. Ich möchte das Motiv des Übergangs jedoch nicht innerhalb des kafkaschen Werks, sondern im Vergleich zu Nietzsches Gleichnis beleuchten. Wie gestaltet Kafka den Übergang zu etwas Anderem, zu dem Anderen? Novalis sprach vom Traum als einem Riß in dem geheimnisvollen Vorhang zwischen den Welten, einem Riß, durch den sich wieder, allerdings „bereichert“, zurückschlüpfen läßt in die Wirklichkeit. Für Kafka, wie für Nietzsche, gibt es dieses Zurück nicht; das Vorher, das Zurückgebliebene läßt sich nur noch mit Sprache vergegenwärtigen.

Kafka beginnt seinen Text mit einem Ich, ganz als auktorialer Erzähler. Aber wer ist dieses Ich, was ist es? Die vom Autor gewählte Vergangenheitsform macht zunächst einmal eines deutlich: das jetzt erzählende Ich war einmal ein anderes Ich, nämlich eine Brücke, eine menschliche Brücke, ausgestattet mit allen menschlichen Eigenschaften, sowohl körperlich wie geistig, wie im Laufe der Erzählung zu erfahren ist. Dieses Ich wußte, ich muß eine Brücke bleiben; der Absturz führt zu meinem Ende als Brücke.

Wir haben hier nicht nur zwei Ufer, ein diesseitiges und ein jenseitiges, wir haben auch zwei oder gar drei Ichs, zählt man das Ich vor dem Sein als Brücke über dem Abgrund (den schließlich auftauchenden „Wanderer“?) hinzu. Konzentrieren wir uns aber zunächst auf das erzählende Jetzt-Ich und das Ich des Übergangs. Nietzsche spricht, in Person seines Zarathustra, davon, diejenigen zu lieben, „die sich der Erde opfern, dass die Erde einst des Übermenschen werde“ (KSA, S.17.). Das Jetzt-Ich Kafkas hat sich offenbar geopfert, berichtet es doch in der Erzählung vom Ende seines Seins als Brücke, jetzt (in einem Danach) gleichsam vom anderen Ufer aus, geradezu so etwas wie Rechenschaft ablegend. Spricht hier also, im Erzähler-Ich, der Übermensch? Fest steht, daß hier ein einzelnes Ich spricht, das Werden oder das Gewordensein allein durch den Erzählvorgang betonend.

Betrachten wir den Text weiter. Wir wissen um das Übergangs-Ich; ein zur Brücke gewordener Mensch, dessen gefährlicher Zustand über einem Abgrund nur enden kann mit dem Absturz, der aber für den Brücken-Menschen zunächst zwar denkbar, aber offensichtlich nicht machbar ist, da er nicht loslassen kann, weil es dafür keinen Anlaß gibt. Als sich endlich ein „Mannesschritt“ nähert, denkt er allein nur an die Aufgabe, den ihm „Anvertrauten“ hinüberzubringen, ohne aber, lesen wir hier parallel Nietzsche, ein Zweck zu sein, gleichwohl aber „ein Übergang und ein Untergang“. Der Brücken-Mensch sieht den Herankommenden, den Wanderer, nicht, er blickt wartend in den Abgrund, aber er hört ihn und macht sich bereit, ihn sicher ans Land zu schleudern, sollte er schwanken. Die Frage, wer der Herannahende wohl sein möge, stellt sich der Brücken-Mensch jedoch erst im „wilden Schmerz“, als dieser ihm mitten auf den Leib springt. Zuvor träumte er dem Wanderer „nach über Berg und Tal“, während derselbe unschlüssig und vorsichtig die Brücke zunächst einmal untersucht.

Träumt der Brücken-Mensch (in seinem Gedankenwirrwarr) sich selbst? Immerhin plant er den womöglich Schwankenden ans Land zu schleudern und sich dabei zu erkennen zu geben. Das Ich, das dem anderen Ich eine Brücke ist? Noch ist der Brücken-Mensch in seinen Träumen befangen, als der Wanderer, wie gesagt, plötzlich mit beiden Füßen auf ihn springt, und erst jetzt, im Schmerz, fragt der Brücken-Mensch nach der Identität des Anderen, fragt, ob er ein Kind, ein Turner, ein Waghalsiger, ein Selbstmörder, ein Versucher, ein Vernichter sei. Er wendet sich ihm zu, das heißt, er versucht es, aber noch bevor er den Anderen erkennt, stürzt er in den Abgrund.

Wie heißt es bei Nietzsche? War dort nicht in einem Atemzug die Rede von dem Menschen als einem Übergang, der Brücke, und einem Untergang, dem Absturz!? An anderer Stelle wird es noch deutlicher, wenn Nietzsche Zarathustra in den Mund legt: „Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang“ (KSA, S.17.). Eben dies, das Erkennen, will der Brücken-Mensch, er will erkennen, wer ihm da auf den Leib gesprungen ist, wer den Übergang zu wagen beschlossen hat, wer sein anderes, sein geträumtes Ich ist; es steht gleichsam hier ein Erkenne Dich selbst zwischen den Zeilen. So lautet das Ende der Geschichte:

“Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich so friedlich angestarrt hatten aus dem rasenden Wasser.”

Erkennt der Brücken-Mensch, so ist zu fragen, im Absturz, im Untergang sein anderes Ich, den Wanderer, bevor beide aufgespießt und zerrissen sind, um dann schließlich vom rasenden Wasser, wie anzunehmen ist, fortgetragen zu werden? Die „Leerstelle“ im Text, die Zerreißung betreffend, ist hier aber keine Auslassung, sondern verweist auf den Beginn der Erzählung zurück; das (neue) Ich als erstes Wort des Textes gibt die Antwort! So ist nach dem Absturz der beiden Ichs ein neues, sich hier im Ich des auktorialen Erzählers offenbarendes Ich entstanden, das dann letzten Endes Übermensch zu heißen ist als eines Versuchers und Überwinders.

Ich denke, die Brücke kann in diesem Text durchaus als so etwas wie eine lebende Sollbruchstelle aufgefaßt werden, ein Ich, das im Untergang, im Bruch, zu einer neuen Existenzweise kommt kraft Überwindung seiner selbst und so zum Übermenschen wird – strikt in dem Sinne, in dem Nietzsche diesen Begriff meinte.

EIN EXEMPEL DER FREIHEIT („Die Geste des Malens“)

„Wir sind nicht allein in der Welt und wissen davon, weil rings um uns die Gesten der anderen auf uns deuten. Dieses Deuten ist eine Tätigkeit und zugleich ein Vorwegnehmen des Getanen. Die Grammatik erschwert die Formulierung des Umstands, dass Bedeutung ´haben´ und Bedeutung ´geben´  synonym sind. Aber die Betrachtung der Geste des Malens umgeht die grammatikalische Hürde. Das zu malende Gemälde ist die Bedeutung, welche die Geste ´gibt´, indem sie es macht, und ´hat´, indem sie es vorwegnimmt. Der Maler verwirklicht sich in der Geste, weil darin sein Leben jene Bedeutung bekommt, welche sie gibt, und sie gibt sie durch Pinselstriche, Fußbewegungen, Augenblinzeln, kurz durch die Bewegung des Deutens. Die Bewegung des Deutens ist nicht selbst  ´Arbeit´, sondern der Entwurf der Arbeit. Und doch zielt die Bewegung des Deutens auf ein Verändern der Welt und hat es zur Folge.“
Vilem Flusser: Die Geste des  Malens

Ff. der Serie: „Gesten

„Mein Vater handelte schnell und unerbittlich. War er mir in den letzten Monaten immer schwächer und hinfälliger erschienen, so wuchs er jetzt über sich hinaus. Seine Wangen röteten sich, seine Hände griffen beherzt zu, sein Schritt wurde ausladender. Hinter seinen hohen Stirn arbeitete es unablässig, während er an jenem Abend nach dem Zusammenbruch noch dem gemeinsamen Abendessen präsidierte, als sei nichts geschehen. Dorotheas Stuhl indes war leer geblieben. Nachdem er sein Dessert, eine hervorragende bayerische Creme, wie wir sie erst durch die neue deutsche Köchin, die von Dorothea eingestellt worden war, kennengelernt hatten, bis auf den letzten Rest ausgelöffelt hatte, wandte er sich mit fester Stimme an mich: ´In einer Stunde möchte ich dich in meinem Arbeitszimmer sehen. Bis dahin werde ich meine Entscheidung treffen.´

Zu jener Stunde war es mir gleich, was mit Dorothea und dem Kind geschehen würde, das sie unter dem Herzen trug und das ich gezeugt hatte. Ich dachte nur an Sofia und wie ich sie zurück gewinnen könnte. Daher betrat ich das Arbeitszimmer meines Vaters ohne jede Scheu. Ich war mir der Schuld bewusst, die ich auf mich geladen hatte, aber noch immer erschien mein Handeln mir als eine gerechte Rache. ´Die Deutsche verlässt noch zur Stunde mein Haus. Sie geht nach Stettin, wo ich sie fürderhand bei deiner ehemaligen Amme unterbringen kann. Dort wird sie auch das Kind zur Welt bringen. Später…´ Sein Blick traf den meinen und das Unerschütterte meiner Haltung muss ihn erschrocken haben. ´Sollte ich mich täuschen, mein Sohn, und dir Unrecht …“  Ich unterbrach ihn rasch: ´Es ist alles, wie Sie es vermuten, Vater.´ Er schluckte. Dann riss er sich zusammen. ´Ich verlange Stillschweigen, wie du dir denken kannst. Auch du wirst mein Haus verlassen.“ Selbst das schreckte mich nicht, denn meine Gedanken kreisten weiterhin unablässig nur darum, mit welchen Worten, welchen Beteuerungen ich Sofia umzustimmen vermöchte, der ich schon morgen auflauern wollte auf allen ihren Wegen durch die Stadt. „Ich schreibe deinem Onkel in Odessa und bitte ihn darum, dich aufzunehmen.“ Zum ersten Mal horchte ich auf. Ich erkannte Vaters Plan: Sie an die Baltische See und ich ans Schwarze Meer. „Du bist frei, solange du diese deutsche Hure nicht wiedersiehst, die ich in mein Haus geholt habe. Verzeih mir, mein Sohn, dass ich dich der Verführerin aussetzte.“ Er gab mir die Unschuld zurück mit diesen Worten, mein Vater, und ein Exempel der Freiheit. Er ließ mich die Welt sehen, wie er sie sehen wollte.

Noch in dieser Nacht folgte ich in einer Mietkutsche Dorothea nach Stettin.“

Farah Days Tagebuch, 14

Montag, 9. September 2013

Schall und Rauch

Meine Liebe, du hast alle Zeit der Welt.
Die Dinge, die ich von Hand auf Zettel schreibe, sind jene, die nicht von alleine haften. Unzuverlässiges Zeugs.
Meine Hände altern schneller als der Rest meines Körpers, meine Ideen altern schneller, als die Zeit lang ist. Ich war der Freiheit immer troy, nun stellt sich heraus, sie ist ein riesiger, komplett leerer Parkplatz. Niemand greift sie an, niemand da außer mir. Ich parke trotzdem immer auf der gleichen Stelle, leg’ die verdammte Parkuhr an die Windschutzscheibe, obwohl keiner kontrollieren kommt. Mir egal; ich bestehe darauf.
Immer bin ich gewahr. Deswegen die Vorsicht. Vor-sicht: das, was man sieht, bevor man sieht.

„Dein Schlafzimmer“, moniert er, „sieht aus wie eine Krankenstation, die Kissen, dies gebrochene Weiß und Grün.“
„Ich brauche Sicherheit zum Einschlafen“, sage ich.
„Lass uns zu mir gehen“, sagt er, „hier kann man nicht dreckigsein.“
Ich mag weiß, sauber und Stille. Am allermeisten Stille. Lautloses Gleiten. Der Herbst tändelt schon in den Ecken, ich weiß nicht, ob ich diesmal gut vorbereitet bin, immernochmehr Türen, die sich nicht schließen lassen.

Eigenmächtig.

Was für ein unheimliches Wort.

„Sie ist mein Lieblingsmensch“, sagt er zu der Frau. Ich stehe dabei.
Die Frau lächelt, sieht mich an, sagt: „Oh, ich glaube, sie ist so eine, die der Lieblingsmensch von vielen ist.“
Er nimmt mich in den Arm. „Ja“ sagt er. „Nur ihr eigener nicht.“
„Vielleicht mögt ihr mich deswegen so gerne“, sage ich. „Ich nehme mir nichts heraus.“

Ich nehme mir nichts heraus, ich maße mir nichts an, ich bin frei. Mein Parkplatz ist der größte von allen.
Er
Ist
Unheimlich
Groß.

Selbst wenn …
… doch das sag’ ich nicht.

Auf einem anderen Zettel steht:
Bist Du derjenige, der meine Flucht aufhalten wird?

Die Raupe Stück für Stück, die mit ihrer Körperlänge die Welt ausmisst. Ausdehnen, Zusammenziehen, Atmen. Kann ich alles. Nur die Klebefüßchen unten an der Raupe, die bewirken, dass sie mit Ausdehnenzusammenziehenatmen vom Fleck kommt: die fehlen mir. Vielleicht muss ich von vorne anfangen. Einen ersten Punkt entdecken, an dem ich haften
bleiben
wollen
würde.
So viele Zettel. Unterscheidungen. Verschenkungen. Wer will schon besitzen? Von fern ein Geheul.

Die Hölle, das sind die Anderen.
Read my stitches. Replace me. Take over.

Meine Zunge schmeckt süß, wie frisch gemäht, seitdem ich nicht mehr rauche, und der Wind, der Wind, fährt mir ins Maul hinein. Wer will da noch atmen.

Alles ist immer anders.
Alles ist immer neutral.
Alles ist immer gleichzeitig.

Ich wähle mich. Und Euch. Und von einer Sekunde auf die andere schnurrt der Parkplatz auf die Größe eines Raupenkörpers zusammen. Man misst immer nur sich selbst, in allem, was fremd und anders ist, misst man nur sich selbst.
Die Welt, meine Kleine, mein Littelwitsch, ist nicht größer als Du.

Schellendiskursli / Schellenexkursli (02)

Schellendiskursli, Szene 02

dass welt ein bilderbuch sei voller
bilderbücher hier das setting einer
kleinfamilie knapper stunde null gewisser
religionen schöpfungsakt (breit aufgestellt) von
heiligen familien muttern (rot) und vatern in
dezentem (grünen) blau stolz jakobinisch heisst
dann (logisch) nachwuchs bärchen
ursli das archivgesicht noch aus der
andern zeit ein buch in buch im buch
ein jesus sternbild wunschpunsch aller pärchen

was kann ein haus nicht alles sein als
buch als allegorisch fein gedachter ort erzählter
klein und grossgeschichten keller eingang
tore fenster öffnungen in die zu schauen lohnt
schornstein und vater raucher einer tuts
der andere nicht in diesem nu das
hausgesicht ornamentiert partiell kopf hirn und
heimat weiter namenloser elternschaft fungiert
reproduktion noch grösserer maschinen ich ist
eine werkstatt medien (dort ein vogel) tun dies kund


Zeichnung: Livio (7)

Schellenexkursli

(02) psyche, speicher, medien. mit dem willen zur kreativen interpretation ausgerüstet, werden wir wieder zurückgeworfen auf die gemachtheit dieses ereignisses und ortes als vielschichtigen text. in die buchform, die alle noch so auseinanderstrebenden (be)deutungsmöglichkeiten miteinander verbindet und rundet. ein buch schafft ordnung und zuversicht. sich die welt als buch vorzustellen (aurelius augustinus), gibt ihrer lesbarkeit einen rahmen, der die richtigkeit des passierenden unterstreicht. dass das urslielternhaus ornamente trägt (spiralen, tiere), die hier schon in versatzstücken später erzähltes enthalten, betont die wichtigkeit tiefenstruktureller beobachtung. dass wir geradezu mit einer familienaufstellung (nach hellinger) konfrontiert werden, einer methode der systemischen psychotherapie, ermuntert uns, den text auch psychoanalytisch zu berühren. er bietet dann mutter- und vaterfigur an zur identifikation und zum eintauchen in die struktur der kleinfamilie, und markiert diese als ausgangspunkt eines sich in auflösung befindlichen systems, auf dem weg zu einer neuen westlichen gesellschaftsform: dem losen verbund einer singlegesellschaft. aufsteller ist hier: der erzähler. kann dabei die farbwahl des bildes zufall sein? die mutter trägt die farben blau, weiss, rot – diejenigen der französischen revolution, wir nehmen das als stützenden beleg. historisch-strukturelle diskontinuitäten sollen aber nicht verschwiegen werden. ebenso finden sich auch: die heilige familie mit dem filius jesus, der vater (josef), ein handwerker (zimmermann). das haus ist der ort der heimat, der sohn zum reisen bestimmt. diese religiöse familia steht als literatur und als entwurfsvariante der psychoanalytischen gegenüber. gemeinsam werden diese bilder gespeichert in einem, dem literarischen archiv, und haus und umgebung zu dessen allegorie verdichtet: die menge der öffnungen, räume, auch als speicherfiguren unterschiedlichster situationen und handlungen. (im verhältnis zum kleinräumigen maiensäss, später, dem erweckungsort und ort der entbehrung:) wir nehmen einblick in ein raumgebilde, dessen reduktion eingeleitet werden muss, um (in der ausbreitung, in der narration) neues erzählen zu ermöglichen. das haus (mit seinen funktional unterschiedlichen teilen) fungiert aber auch zugleich als konstruktionsplan oder modell eines gehirns, in dem genau diese auseinandersetzungen und verhandlungen theoretisch stattfinden. das bild (mit haus, eltern etc.) wird zudem nicht perspektivisch abgeschlossen. ein – als randfigur – hinzugefügter vogel observiert diese szene. unsere beobachtung des vogels (als medium) macht uns leser zu beobachtern des beobachters. wir werden also auch als beobachter zweiter instanz verpflichtet. nur eine spielerei? zumindest drängt uns diese konstruktion eine weitere möglichkeit auf: nämlich die einer systemtheoretischen textbetrachtung.

Leseprobe zu:
Schellendiskursli / Schellenexkursli.
Eine poetische Analyse des “Schellenursli”
mit einem Kommentaressay
und zahlreichen Illustrationen
sowie einem Nachwort von Elisabeth Wandeler-Deck
Von Hartmut Abendschein

Nichts ist geschehen

Auch an diesem Abend wird er auf dem Balkon stehen, weil es ein weiteres Puzzlestück seines Alltags ist, nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen.

Hat er erst den Teller von sich geschoben, so wie eine vorübergehend abgelegte (schlechte) Angewohnheit, der er morgen lustvoll und ausgehungert wieder verfallen wird, lehnt er sich nach hinten, tief in seinen Rücken, bis er sein Rückgrat spürt, damit der Schmerz als Welle durch seine Muskeln schwappen kann, auf der er sich ins Leben zurücktragen lässt.

Während seine Frau die Teller abräumt, reibt er sich an der Lehne, dehnt und streckt er sich, um so die Spannung aus Bauch und Hemd zu drücken, will er doch nicht nur aus Unwohlsein bestehen; die Achs und Wehs, die seine Bewegungen begleiten, sind ihm genug Lebendigkeit. Überschäumen will er nicht, will zu keiner Lache werden, die man wegwischen muss.

Nach wenigen Minuten, die er mit den Explosionen in seiner Bauchhöhle umgebracht hat, schiebt er sich samt Stuhl in Richtung der Küchenzeile, vor der seine Frau tanzt und verzweifelt Reste von den Tellern kratzt. Er sieht nicht zu ihr hin, weil er sie ja kennt, viele Jahre schon, und es ihm nicht nötig scheint, deshalb öfter als wirklich nötig in ihre Richtung zu schauen. Sie ist ihm zu einem Geräusch geworden, zu einem Schatten, zu einer dunklen Ahnung, die ihn nicht verlässt, so sehr und oft er heimlich auch schon darum gefleht hat.

Er drückt sich aus den Knien nach oben, sich seitlich am Stuhl abstützend, mit einem Ächzen, dass sein Alter als Reminiszenz erwartet. Zu seinem biologischen Soundtrack gehören diese Laute, die den Bewegungsabläufen einen Geschmack nach Hoffnungslosigkeit beimischen.

Ohne sich weiter um seine Frau, die Teller, die er ja in guten Händen weiß, zu kümmern, schlurft er bucklig durch das Wohnzimmer, nach den Zigaretten fischend, die auf einem verkümmerten Tischlein neben seinem Stammsessel der Abendstunden harren. Jedes Ding hat seinen Platz in dieser Wohnungswelt, nicht nur die Zigaretten, auch die Küsse, die neben dem Bett liegen und vor dem Schlafen acht- und blicklos verteilt werden. Zwei sind es an der Zahl, niemals mehr.

Seine Hand zerrt zittrig den Türgriff in die Horizontale, damit er in die frische Luft treten kann, die ihn still und unbekümmert empfängt. Weitab der Stadt wohnen sie, ewig schon.

Dort stampft er dann unruhig wie ein Pferd im Gatter von einem Bein auf das andere, mit einer Zigarette in der rechten Hand, die er sorgsam aufraucht. Das Licht des Wohnzimmers schimmert träge, als fehle ihm die Kraft. An den Rändern seiner Konturen franst es aus, verliert sich eilig im Dunkel.

Nie spaziert hier um diese Stunde jemand vorüber, und der Mann denkt, dass es gut so ist, wie es ist, denn es würde ihn beschämen, würde man ihn beim Rauchen und Spähen erwischen.

Reinste und klare Sternenpracht wuchert üppig über seinem Kopf. Den Mann, der sich zu keiner Zeit mit Astronomie beschäftigte, erinnern sie an kleine Taschenlampen, die weit entfernt in die Nacht gestreckt werden. Es könnten unzählige Kinder sein, die sich dort oben am oder im Himmel verlaufen haben, vielleicht auch das Kind, das ihm seine Frau vorenthielt.

Indem er eine Rauchwolke aus seinem Blickfeld jagt, entfernt er auch die ihm unsinnig erscheinenden Gedanken an Kinder, die es nie gab, nie geben wird. Warum also einer Vergangenheit nachtrauern, die so nie schlüpfte?

Seine Hand gleitet zur Seite, blind, weil sein Körper längst über eine eigene Erinnerung verfügt. Die Beine führen ihn gekonnt durch das undurchdringliche Schwarz der nächtlichen Wohnung, hatten sie doch Jahrzehnte Zeit, sich in der Durchquerung selbiger zu üben. Unbesehen klopft er die Asche in einen ehemaligen Blumentopf. Einen Aschenbecher kaufte er nie, weil er stets die Hoffnung in sich trug, das Rauchen in Kürze aufzugeben. Er tat es nicht, weil es nicht in seiner Art liegt, sich der Dinge, die er in und an sich trägt, zu entledigen. Ein Kleiderständer ist er, der alles, was im Laufe der Jahre über und an ihn gehängt wurde, mit sich schleift, Meter für Meter, bis zu diesem Tag heute auf dem Balkon, der ihm vorkommt wie alle anderen Tage. Der Gedanke beunruhigt ihn nicht, vielmehr kuschelt er sich an das Gebilde, das ihn  heimelig umschwebt. Es ist gut, das zu kennen, was man tagtäglich betrachtet, auch bewohnt und beschläft.

Ein weiterer Zug wird gesaugt. Der Qualm schlängelt sich in seine Nase, wird von ihm verschluckt. Es ist, als müsse er ertrinken, wenn er nicht nach dem Rauch schnappt. Ein lauerndes Krokodil, das sich seine Portion Abendfreiheit reißt.

Nicht mehr lange, dann wird er ins Wohnzimmer schlappen, sich in seinem Sessel niederlassen, abermals mit einem Laut, den er und seine Frau nur zu gut kennen, so gut, dass sie ihn zu überhören, sich längst antrainiert haben.

Der Fernseher wird ihnen seine bunten Bilder vor die Füße kippen, seinen Unrat, den sie nicht bestellt haben, aber in Ermangelung eines anderen Zeitvertreibs willig in ihre Augen schaufeln.

Fernsehshows mögen sie besonders, weil die Shows beide an die Tage ihrer Kindheit erinnern, an die Anfänge dieses irren Bildersturms, der seit seinem ersten Wehen jegliche Realität von der Landkarte gefegt hat.

Was übrig geblieben ist: die Frau und der Mann, und all die Vorkommnisse, die es nie gab, von denen sie aber zu träumen gelernt haben.

Zug um Zug gleitet der Mann auf unsichtbaren Schienen in die Nacht:  in das sich wiegende Gras, in die Äste des Baumes, die – wie so vieles – nur eine Andeutung bleiben. Er muss lange spähen, um sich gewiss zu werden, dass es sie gibt, auch wenn ihm seine Erfahrung verraten hat, dass es so sein muss.

Nichts verschwindet einfach so, obwohl er lernen musste, das es eine Lüge ist, die er sich selbst allzu bereitwillig auftischt. Die Welt schwindet, täglich, wenn auch oft unbemerkt. Große Löcher gab es trotzdem zuhauf: Die Arbeit, die ihn in die Frührente verbannte, die Eltern, die einem Krebs aufsaßen, der sie in den Himmel trug. Den, so hofft er, wird es doch geben, muss es doch geben, denn es wäre eine Blamage für sein Leben, für seine Erziehung, für seine Kirchgänge, für alle, wenn dem nicht so wäre. Es muss diesen Gott geben, von dem sie ihm berichten, und zu dem er rasche Stoßgebete in den Nächten sendet, denn die Worte, die verschleudert wurden, müssen ein Becken finden, in dem sie aufgefangen werden. Es muss ihn geben, ob er nun Gott oder anderswie heißt, das ist ihm einerlei. Es muss ihn geben, ob er will oder nicht.

Ein letzter Zug, und dann drückt er die Zigarette in den Blumentopf, in dem Abend für Abend die Früchte seiner Spätflucht fallen. (Er ist der Baum der Nichterkenntnis von Gut und Böse.)

Er will ins Wohnzimmer zurück, will sich drehen, als ihn ein Geräusch aufschreckt.

Der Mann hält inne und lässt seinen Blick schweifen, langsam, gemächlich, und dies, obwohl seine Augen nicht weit greifen können; selbst die blinde Erinnerung seines Körpers hilft bei der Entschleierung und Zuordnung des Unbekannten nicht.

Wie ein Husten klang es, vielleicht wie ein Wort, das er nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte, weil es, so denkt der Mann unbeholfen, nicht aus unserem Sprachraum stammt.

Langsam, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, dreht er sich weiter auf seinen Sohlen und starrt in die Nacht, die seine Blicke schweigend und geduldig greift, und verschluckt .

Nichts ist mehr zu hören, und er will schon ein luftleeres Hallo in den Garten werfen, einen platten Ball, nach dem jemand greifen könnte, als  seine Frau plötzlich in der Türöffnung erscheint, den Kunststoffrahmen in der Hand, und fragt, was sei, denn er sei heute so ungewöhnlich lange fort. Sie habe sich Sorgen gemacht.

Erschrocken, ohne recht zu wissen warum, blicken sie sich an,  sehen sie sich tief in die Augen, tiefer noch als sie sehen können.

Eine seltsame Sorge, denkt der Mann.

Wie an den Kragen gerissen, zucken sie zurück. Der Mann möchte  seiner Frau am liebsten erzählen, dass er etwas gehört habe, ein Husten, oder auch ein Wort in einer fremden, ihm unbekannten Sprache, aber er hält sich zurück, behält es für sich, will er sich doch ungern zum Narren machen. Hier draußen war noch nie etwas, wird, so schätzt der Mann die kommenden Situationen ein, nie etwas sein: einzig die Frau und er, und die Erinnerungen an eine Zeit, die es nie gab.

Nichts, flüstert er, sie solle sich nicht aufführen, solle keinen Unsinn reden, solle sich in ihrem Sessel und in den Fernsehbildern versenken; er folge ihr – jetzt, sofort.

Die Frau deutet ein Nicken an, obwohl sie unsicher ist, ob dies die richtige Reaktion ist.

Ihre Hand erscheint hinter dem Glas der Tür, gefolgt vom  kläglichen Rest ihres hageren Körpers, den sie Schritt für Schritt achtsam zum Sessel balanciert. Ihr Leben ist ein Drahtseilakt, eine Gang über eine schwankende Hängebrücke.  Sekunde für Sekunde muss sie achten, nicht in die Tiefe zu stürzen, hinab in jenen wilden Strom ihrer oder des Mannes Gefühle, die sie mit sich reißen würden, einem Wasserfall entgegen, dem sie seit ihrem Kennenlernen ausweichen.

Der Mann bleibt zurück, ein Blinzeln lang, das er nutzen will, sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass dort draußen nichts ist, was er nicht kennt, etwas Unbekanntes, das hier nichts zu suchen hat.

Dann schleift er den Wohnzimmerboden, die Tür aber lässt er halboffen, wie die eines Käfigs, von dem er nicht weiß, ob er sich darin oder davor befindet, ob er etwas fangen oder in die Freiheit entlassen soll.

Beide hocken sie in ihren Sesseln und beäugen nicht den Fernseher, wohl aber den Spalt, der zwischen Mauerwerk und Rahmen aufgetan wurde. Ein zahme Brise schlüpft ins Zimmer und lässt sich auf ihren Gesichtern nieder.

Nichts geschieht, nichts ist zu vernehmen, außer dem  röhrenden Gesang eines Schlagersängers, der ihnen seine vergebliche Liebesmüh in die Seelen quetschen will.

Eine, oder zwei Stunden später, sie haben jegliches Zeitgefühl in ihre eingeschlafenen Händen geschweißt, steht der Mann ruckartig auf und schließt die Tür.

Was, möchte die Frau fragen, was hast du erwartet.

Sie schweigt ihre Frage runter, drückt und würgt sie durch den Hals in ihren müden Bauch.

Der Mann schüttelt den Kopf, dann schleppt er sich in sein Bett, wie ein Verletzter, ein vom Leben getroffener, und dies ohne ein Wort auf dem Weg dorthin zu verlieren.

Da war nichts, spukt es durch seinen Kopf, bevor er sich bedeckt, weiter bedeckt hält, damit seine trügerischen Hoffnungen nicht als Worte auf der Zunge landen.

Bitterstoffe

1

Großes Hallo Richtung Lohhausen-Flughafen.

“Luise, meine zwölftbeste Freundin! Wie siehts aus? Hast du dein Röckchen dabei..?”

“Zwei, Edith, zwei. Eins mit Rüschen, eins mit Schlitz. Extra für dich, Liebes!”

“Na Prösterchen! Dann kanns ja losgehn!”

Luise und Edith thronen auf ihren Gepäckstücken und begiessen die kommenden zehn Tage Mallorca im klimatisierten Beach Club mit hochprozentigen kleinen Schweinereien, während ich schon am nächsten Halt raus muss. In Fahrtrichtung links, wie die Stimme von Band freundlich befiehlt, vermutlich weil man in Fahrtrichtung rechts voll in den Inter-City nach Dortmund kracht.

Es ist September, es ist zu kühl für September und ich bin auf dem Weg zur Auftaktveranstaltung. Sechs Monate warten darauf, mich in Geiselhaft zu nehmen, sechs Monate Maßnahme des Job-Centers, sechs Monate und nicht einen Maßnahmetag weniger. Andererseits – alles besser als Mallorca all inclusive, oder nicht.

Die Maßnahme findet im stillgelegten Trakt einer alten Volksschule statt und dient der Stabilisierung der Beschäftigungssuche, wie es im Anschreiben heisst. Hätte man das Kind beim Namen genannt, es hätte Sechs Monate raus aus der Statistik heissen müssen, und die Referenten Reinigungskräfte. Statistiksäuberer.

Putzerfischchen, mit Urlaubsanspruch.

Allein die Formulierung Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist mir ein Rätsel. Wie zum Henker lässt sich eine Suche stabilisieren? Forcieren lässt sich eine Beschäftigungssuche, sie lässt sich aufgeben oder anpassen oder sonstwie gestalten, doch stabilisieren?! Werden da stramme Bambusstäbe und Rankstützen ausgeteilt? Oder doch lieber direkt als Dragee zur innerlichen Anwendung, für die ganz Sensiblen?

Wenn ich im Leben eins gelernt habe: Eine Formulierung in einem offiziellen Schreiben ist nie umsonst, es steckt immer etwas dahinter. In diesem Fall der unausgesprochene Vorwurf, der Verdacht: Langzeitarbeitslose sind nicht stabil. Sie finden keine Arbeit, weil sie nicht hart genug daran arbeiten, Arbeit zu finden. Sie geben zu schnell auf, sie sind haltlos und labil, sie pennen bis in die Puppen, verschlampen Unterlagen und kleben in der Bewerbungsmappe das falsche Foto falschrum auf die falsche Seite,

HERRGOTT!!

NUN STABILISIEREN SIE SICH DOCH ENDLICH, SIE.. SEELCHEN!

2

Ich hab noch Zeit und entscheide mich, im Schnellcafe am Hauptbahnhof einen Hauptbahnhofs-Espresso zu nehmen. Ist ja immer ein Risiko. Wenn man Pech hat, erwischt man einen Espresso, der nach allem, aber nicht nach Kaffee schmeckt, nicht mal lauwarm nach Hauptbahnhof, trotz all der Vollautomaten. Der hier geht. Ist zwar nicht so schwarz, dass man gleich zum Gospelsänger wird, aber geht.

Ich blicke aus dem Fenster und entdecke Pauli auf dem Bahnhofsvorplatz. Seine knorrige Visage ist unübersehbar, auch wenn er selbst blind wie ein Maulwurf  ist und sich eher tastend durch die Welt bewegt. Meist hat er einen Schmöker aus dem Fantasybereich in Arbeit, er liest ununterbrochen. Er liest im Gehen, er liest im Bus, er liest, wo immer er sich gerade aufhält, die Schwarte so nah vor den Augen, als würde sie bräunen.

Ohne was zu lesen bin ich kein Mensch, hat er mal gesagt, doch an diesem Morgen ist er ohne Buch. Kein Mensch. Was ich sehe, ist Pauli ohne alles sozusagen. Er steht unbeteiligt auf dem Bahnhofsvorplatz und beobachtet den Himmel über den Taxis. Ich zögere einen Moment, geh dann hinaus, den heissen Pappbecher in der Hand.

“Lange nicht gesehen, Pauli.”

Für die Uhrzeit umweht ihn schon eine stolze Fahne, und ohne mich groß anzusehen legt er sofort Beschwerde ein. Er habe drei Monate im offenen Vollzug abgesessen, wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe, aber niemand in der Szene, er wiederholte: NIEMAND!, hätte seine Abwesenheit bemerkt.

“Ich bin schwer enttäuscht!”

Ich muss lachen und klopf ihm auf die Schulter.

“Das wird schon wieder, Pauli. Guck mal, ich hab dich sofort erkannt – das ist doch schon mal was.”

“Ach, du.. redest doch nur mit dem Mob, damit du was zu schreiben hast. Nee, mein Freund, du zählst nicht. Du bist out of order.”

Ich kenne Pauli aus längst verschollenen Haus der Jugend-Tagen. Schon damals war er als Suffkopp verschrien. Zwischenzeitlich dem Pulver verfallen und in den Knast gewandert, ist er nun reumütig zum Jägermeister zurückgekehrt, vielmehr zur Billigvariante Gold-Förster oder Försters Gold, aus meiner Perspektive lässt sich das schlecht zu entziffern. Was Pauli schon immer auszeichnete, das filigrane Klauen von Spirituosen, ob im gut sortierten Einzelhandel oder in Discountermärkten, hat er immer noch drauf. So was verlernt man nicht, meint er bescheiden und hakt sein Talent unter der Etüde Fingerübung ab.

“Wieso hast du kein Buch dabei?” frag ich.

“Keine Ahnung, was ich noch lesen soll. Die Buchhandlungen sind voll bis unter die Decke, aber ich find nichts, was ich nicht schon irgendwo gelesen hätte. Bei dir hab ich auch mal geblättert, bei nem Kumpel am Rechner. Wie heisst das, Blog? Fand ich jetzt auch nicht so berauschend. So ein Mix aus Bukowski und.. ja, keine Ahnung was. Sorry, Babe, aber so isses nun mal.”

Sprichts, und taucht unter in der Fußgängerzone. Ich blicke ihm hinterher und frage mich, wie das eigentlich kommt, dass unter meinen Bekannten so auffallend viele Arbeitslose, Kleinkriminelle und arbeitslose Kleinkriminelle sind, aber auch ganz herkömmliche Trinker und Junkies ohne Job und Perspektive. Ha ha! Sehr witzig!

Alles halb so ha ha.

3

Es nieselt, der Wind wird heftiger. Bis zum Schulungsgebäude sind es zu Fuß zehn Minuten – immer die Fußgängerzone runter und unten am Marktplatz rechts. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dort eine Maßnahme mitmache. Dass einem Fallmanager was eingefallen ist .

“Ich glaub, wir müssen da noch mal was machen mit Ihnen.”

(Ich glaub, Sie müssen noch mal für ein paar Monate aus der Statistik raus.)

(Ich schätze, meine Vorgesetzte wird sonst unruhig.)

(Ich hoffe, ich schaffs noch bis zur Rente.)

Maßnahmen des Job-Centers sind die reine Zeit-und Geldverschwendung, und alle wissen Bescheid, alle spielen mit. Jedem Beteiligten ist klar, dass niemand schneller einen Job ergattert, nur weil er an einer Maßnahme teilnimmt. Maßnahmen dienen allein dazu, die Maschinerie der Trägervereine am laufen zu halten, die sich rund um die kommunalen Arbeitsämter und deren Budget für Langzeitarbeitslose aufgebläht hat.

Natürlich kommt es schon mal vor, dass Teilnahmer innerhalb weniger Tage die Fronten wechseln. Eben noch als arbeitslose Sozialarbeiter einer Maßnahme zugewiesen, werden sie vom Trägerverein vom Fleck weg als Referent engagiert und stehen als Ex-Arbeitslose vor Immer noch-Arbeitslosen und wissen nicht so recht, was sie eigentlich erzählen sollen. Warum sie plötzlich auf der anderen Seite stehen und aus dem Du ein Sie werden soll.  Ist aber auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es bei der Übermittlung der Kontodaten keine Zahlendreher gibt. Das wäre asozial.

Eine Maßnahme hat aber auch gute Seiten. Man ist von Leuten umgeben, die in ähnlichen Situationen stecken wie man selbst und von denen man noch was lernen kann. Denn mal ehrlich, was ist das Leben groß? Man wird allein geboren, man stirbt allein, und zwischendurch trifft man ein paar Leute, die einem was beibringen – wenn man Glück hat.

Ausserdem ist es ja nicht so, dass allen Erwerbslosen SOFORT der HIER, ICH! ICH! ICH!-Schaum vorm Mund steht, sobald irgendwo eine Stelle frei wird. Nicht jeder Erwerbslose, (das Wort benutzt mein Vater immer), will unbedingt und unter allen Umständen einen Job finden. Nachbar Timo zum Beispiel will gar nicht mehr arbeiten, er ist vom Macher zum Lasser geworden. Als er einen Termin im Job-Center hat und vom Fallmanager gefragt wird, wie er sich das denn vorstelle mit seiner beruflichen Zukunft, antwortet Timo ohne jeglichen Anflug von Ironie:

“Ich plane, demnächst mehr beim Lotto zu gewinnen.”

Und das ist nicht mal gelogen. Timo, ein hochintelligenter Bursche mit einem IQ von 130, hat lange Jahre als Personalberater in einer renommierten Headhunter-Kanzlei gearbeitet, doch das ist beinahe ein Jahrzehnt her. In der Zwischenzeit hat er von seinen Ersparnissen gelebt, so lange, bis sie restlos aufgebraucht waren, trotz eingeschränktem Konsum von so ziemlich allem, wie er sagt. Nach zehn Jahre Arbeitslosigkeit hat er sich nun endlich arbeitslos gemeldet und bezieht Hartz IV.

Timo, ein ruhiger Vertreter, der nicht viel Wert auf Gesellschaft legt, verbringt seine Abende damit, bei abgestellter Türklingel klassischer Musik und Opern zu lauschen, am liebsten Puccini, am liebsten über Kopfhörer. Und wenn nicht gerade Mitarbeiter des Job-Centers in der Nähe sind, gibt Timo freimütig zu, dass die Sache mit der Arbeit für ihn erledigt sei. Dass ihm, unlängst 50 geworden, das Leben zu schade sei, um davon jede Woche sechzig Stunden abzuknapsen.

Oder 38,5.

“Ich hab das hinter mir. Ich hab das lang genug gemacht. Ich brauch das alles nicht mehr. Ich will die restlichen zwanzig Jahre meines Lebens geniessen und nicht bloß ein Jahr Rente beziehen und dann tot umfallen.”

Er hat sich einen Hund zugelegt, einen quirligen Collie, mit dem er auf Frisbee-Wettbewerben bis hinauf nach Belgien brilliert und das Bergische Land durchwandert, oft in tagelangen Touren. Alles besser als die Tretmühle Arbeit, sagt Timo. Alles besser als Mallorca, sag ich.

Unter einem schlackegrauen Himmel springe ich in der Fußgängerzone von Vordach zu Vordach, von Markise zu Markise, bis ich halbwegs trocken das Schulungsgebäude erreiche.

Die Auftaktveranstaltung beginnt Punkt zehn. Schnell noch eine rauchen, unter diesem speziell für Raucher gezimmerten Unterstand mit Aschenbecher, wo schon ein Haufen Leute wartet, alle mit dem gleichen Passierschein in der Hand, der sie als Teilnehmer der Maßnahme ausweist.

“Hallo.”

Kaum jemand grüsst, als ich mich dazustelle. Nur ein langer Stoffel mit Stirnglatze nickt freundlich. Rottner, stellt er sich vor. Wir unterhalten uns ein bißchen, dann gehts los.

Träger der Maßnahme zur Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist eine als gemeinnützig anerkannte Fortbildungsakademie mit Sitz in Frankfurt, die in ganz Deutschland Ableger gebildet hat und gut im Geschäft ist. Pro Teilnehmer kassiert ein Veranstalter einige Tausend Euro, je nach Dauer und Intensität der Maßnahme. Es gibt Maßnahmen, da muss man ein halbes Jahr lang Tag für Tag seine acht Stunden abreissen, es gibt Maßnahmen, da schaut man am Montag- und am Donnerstag-Vormittag kurz auf einen Maßnahme-Kaffee rein und hat ansonsten seine Ruhe.

Ruhe ist das Stichwort, Ruhe zum Schreiben. Um ein Minimum an Ruhe zu haben, sozusagen die existentielle Portion, gibt es eine amtliche Voraussetzung: Man muss aus der Zeit fallen. Man darf nicht dazugehören. Nirgends. Wenn die Leute dich angucken, muss ihnen auf Anhieb klar sein, intuitiv und unmissverständlich: Dieser Mann kriegt keine sms-Nachricht von mir. Den rufe ich nicht an. Der ist definitiv nicht eingeladen. Nirgends. Dann hat man seine Ruhe. Das Minimum.

Die Gräfin und ich pflegen eine besondere Form von Autismus: Wir versuchen so viel wie möglich von der Welt mitzukriegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Kein leichtes Unterfangen.

“Am besten, wir schleichen uns in eine betreute Aussenwohngruppe ein, damit wir den Kopf frei haben für die wirklich wichtigen Dinge”, so die Gräfin leuchtend:  “Dann sind wir Königin!”

Das ganze hat allerdings einen faden Beigeschmack, und ich werde ihn nicht los. Es stellt sich nämlich die Frage, warum die Gesellschaft für einen verschnarchten Autor aufkommen soll, der kein Buch auf die Reihe kriegt. Warum ihn mit Hartz IV durchziehen, bis er wann auch immer ein Bein auf die Erde bekommt. Und was, wenn dieses Bein niemals bis zur Erde reicht? Wenn es sich auf Dauer als Phantombein entpuppt? Blutleer und zu nichts nütze?

Tja, Freunde, das war die Sorte Fragen, die mir nicht in den Kram passt. Und weiter.

4

Was mir sofort gegen den Strich geht, ist dieser große Aufkleber über der Tür, der uns Teilnehmer empfängt:

ARBEITSFABRIK.

Erst denk ich, die haben sich irgendwie vertan in der Aufregung, dass da schon wieder zwei Dutzend Kunden anrücken, die Ende des Monats für ihren Lohn  sorgen, doch dann seh ich mir den Banner genauer an und entdecke Spuren von Abnutzung – der Aufkleber ist nicht neu, der hängt schon länger. Das ist durchdacht, das Wort Arbeitsfabrik, und es klingt gespenstisch. Arbeitsfabrik hätte man auch hoch oben über einem Konzentrationslager montieren können, zur Begrüßung. Warum nicht gleich Arbeit adelt.

Nach einer Weile finde ich Arbeitsfabrik nur noch dümmlich und doppeltgemoppelt. Es soll wohl darauf hinweisen, dass in diesen Räumen hart gearbeitet wird, mit klar definierten Strukturen und Hierarchien, ohne das übliche Maßnahmegesäusel und Bewerbungsgewäsch, aber mit klipper und klarer Ansage:

hier herrscht Pünktlichkeit. Sauberkeit. Ordnung.

5

Zweiter Tag der Maßnahme. Heute sind Einzelgespräche anberaumt. Anwesend sind zwölf Langzeitarbeitslose. Nur zwölf, am ersten Tag waren es noch dreiundzwanzig, die sich in die Anwesenheitsliste eintrugen. Die Hälfte der Leute hat sich schon verabschiedet. Ich frage mich, wie die das hinkriegen. Haben die alle Husten und sich krankschreiben lassen? Oder ist ihnen plötzlich aufgegangen, dass sie ja doch einen Job besitzen und nur vergessen haben, da auch hinzugehen. Kann natürlich jedem mal passieren, so ein Malheur. Logisch.

Ist klar.

Einzelgespräche bedeuteten, dass stets ein Arbeitsloser ins Büro gerufen wird und die anderen elf Leute herumsitzen und nichts zu tun haben. Zwar gibt es nebenan einen großen Technik-Raum, ausgestattet mit funktionstüchtigen Rechnern und schnellem Internetanschluss, doch zumindest an diesem Tag bleiben alle den Monitoren fern und lernen einander kennen.

Mohammed, genannt Momo, rechts von mir, ein stabiler Bursche mit Backenbart, hat sich am Morgen das Kinn ausrasiert. Nun ist es so schwer gerötet, er sieht aus wie nach einer Brandrodung.

Momo stellt sich mit Handschlag vor. Sein Vater ist ein aus Marokko eingewanderter Metzger. Er hatte diesen Beruf auch für seinen Ältesten vorgesehen, und weil Momo ein braver Muslim ist, der Vater gehorcht, begann er eine Metzgerlehre, die er aber nach ein paar Monaten schmiss.

“Ich kann keinen Hammel mehr riechen, Baba! Die machen mich ganz bräsig, deine Hammel!”

Er überwarf sich mit der Familie und siedelte nach München über, jobbte bei BMW am Band, verdiente gutes Geld, war einsam, kehrte zurück und heuerte im typischsten aller Solinger Berufe an, dem Schlieper, dem Messerschleifer.

“Ich hab auch am Stein gearbeitet”, mischt sich ein spätes Mädchen ein, um die fünfzig, krumme Haltung, doch Momo lässt sich nicht beirren. Wir erfahren, dass er eine Weile vor hatte, professioneller Bodybuilder zu werden, “für die Frauen”, wie er betont.

Tatsächlich hat er Oberarme wie Straßenkreuzungen und ein strammes Kreuz. Beste Voraussetzungen für eine Karriere als Kraftpaket. Als ihm jedoch mehr und mehr klar wurde, dass er dafür sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen und stattdessen jede Menge Stereoide fressen müsste, entschied er sich schweren Herzens dagegen.

“Wegen den Frauen.”

Ich bin überrascht, was die Leute so alles für Jobs hatten, bevor sie arbeitslos wurden. Unter den Teilnehmern, die anwesend sind, befindet sich der 57jährige ex-Chefredakteur einer Zeitung, eine Ukrainerin, die Mathematik in Kiew studiert hat sowie ein junger Fitnesstrainer mit einem auffälligen Tattoo: Eine tintenblaue Schlange rekelt sich an seinem schlanken Hals empor. Eine Szene, die ich eher auf Porzellan vermutet hätte, auf Teegeschirr.

Der Fitnesstrainer, ein gutaussehender Bursche, ist irgendwie atemlos. Es fehlt ihm an Ruhe. Er hat zu gleichen Anteilen deutsche und serbische Vorfahren und ist exakt seit einem Jahr arbeitslos, obwohl er im Besitz hochwertiger Trainerscheine ist.

“Ich hab einfach kein Glück”, nölt er, und im weiten Rund nicken die Köpfe wie an Schnüren gezogen, sie nicken und nicken.

Ursprünglich komme er aus Baden-Württemberg, erzählt der Fitnesstrainer und beschwert sich, dass man in Solingen nur Kiffer kennenlerne.

“Achtzig Prozent aller jungen Solinger kiffen.”

Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, führt er fort, “aber ich kiffe nicht, ich bin ja Fitnesstrainer.” Wir fragen uns, was eigentlich die übrigen zwanzig Prozent Solinger mit ihrem Leben anstellen, die nicht kiffen. “Saufen, fixen, tralala”, sagt jemand, ich glaub, ich bin das.

Tarik, EDV-Fachmann, ist gut ausgebildet und noch keine dreissig Jahre alt. In jedem Kurs gibt es mindestens einen arbeitslosen EDV-Fachmann. Es gibt zu viele von ihnen. Sie stehen sich gegenseitig auf dem Fuß und nehmen sich die wenigen verbliebenen 400 Euro-Jobs weg.

Tarik kann sich maßlos darüber aufregen, dass das Job-Center für die Hin-und Rückfahrt zur Auftaktveranstaltung keinen Pfennig Fahrgeld erstattet, während es ab Tag 1 der regulären Maßnahme Fahrgeld gibt. Ausserdem, so Tarik, ein kleiner Nerd, hat er bei dem Betrag, den alle Teilnehmer für einen Monat Busfahren im voraus erhalten sollen, eine andere Summe errechnet: 35, 20 Euro statt 33, 00.

Er steht mächtig unter Strom und wiederholt die Zahlen, bis sie auch der letzte von uns parat hat und zornig aus der Wäsche guckt. Tarik ist kein unsympathischer Kerl, mit einem verschmitzten Lächeln und Gespür für Komik, doch beim Geld hört für ihn der Spaß auf.

Als wir das Fahrgeld am Nachmittag abholen sollen, ausgezahlt wird es einige Strassenzüge weiter bei einer Aussenstelle des Maßnahmeträgers, macht Tarik sich frühzeitig auf die Socken. Er fliegt beinahe durch die Fußgängerzone, will unbedingt der erste sein. Dass ihm womöglich 2 Euro 20 Cent weniger ausbezahlt werden als ihm zusteht, lässt ihm keine Ruhe. Er will unbedingt Beschwerde einlegen, ist sich aber nicht sicher, wo – ob beim Maßnahmeträger oder besser direkt beim Arbeitsamt.

“Wahrscheinlich schicken die mich sowieso von einem zum anderen und wieder zurück, bis ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht,” seufzt er. “Das ist ein ganz abgekartetes Spiel!”

Und wieder sieht man Köpfe nicken.

6

Die beiden Referenten haben wenig Zeit für die Teilnehmer. Sie sind vollauf damit ausgelastet, dicke Akten anzulegen, die ständig aktualisiert werden müssen. Meist stecken sie mit der Nase in irgendwelchen Ordnern und rufen uns einzeln ins Büro, wo wir Formblätter zu unterschreiben haben, deren Richtigkeit sie wiederum gegenzeichnen müssen.

Nur hin und wieder gelingt ihnen in den sechs Monaten so etwas wie ein Vermittlungserfolg: Momo bekommt eine Praktikumsstelle. Bei den angeblich so vielfältigen Beziehungen zur heimischen Industrie keine große Nummer.

7

Mir gefallen Menschen, die sich mit einer gewissen Nonchalance durchs Leben bewegen, und unauffällig. Typen, die man schnell mal verwechselt, weil sie auf den ersten Blick so gar nichts besonderes an sich haben, bis man sie näher kennenlernt und feststellt, he, der ist ja ganz locker, der Blödmann. Der macht einfach nur wenig Wind um sich.

Rottner, der lange Stoffel, ist ungefähr in meinem Alter. Er hat eine Stirnglatze und ständig diese Jesus-Sandalen an den Füßen, egal ob bei Sonnenschein oder Regen. Mit den Latschen und dem karierten Holzfäller-Thermohemd wäre er in den frühen 90ern noch anstandslos als Sozialkundelehrer durchgegangen, mit halber Stundenzahl, doch wir schreiben das Jahr 2011 und Rottner ist seit 11 Jahren arbeitslos.

Zuvor hat er zwei Jahrzehnte lang Wärmespeicher auf großen Frachtschiffen ausgetauscht, für eine international tätige Firma in Cuxhaven. Nun lebt er in Solingen. Warum lebst du in Solingen? frage ich. Warum nicht? nuschelt er, und wir belassen es dabei.

So genau wollte ich es  ohnehin nicht wissen.

Rottner hat einen Hund. Nun haben viele Arbeitslose einen Hund, sie haben ja auch die Zeit dafür, aber nicht alle haben einen Hund mit einer Geschichte wie sein Hund Bootsmann, ein Boxer-Rüde.

“Bootsmann? Och. Wie der Hund auf Saltkrokan?”

Rottner nickt. Viele Worte macht er nicht. Er hat einen leichten Sprachfehler: Die Zungenspitze klopft beim Sprechen gegen die Schneidezähne, so leicht, dass es nicht direkt als Lispeln durchgeht, eher als kleine Marotte, das ‘s’ zu Bett bringen zu wollen, auch am hellichten Tag, mitten im hellichten Satz.

“Der Hund von den Kleinen Strolchen hiess auch Bootsmann”, meint Rottner.

Blödsinn, entgegne ich. Der hiess anders, doch noch eine ganze Weile ist Rottner nicht davon abzubringen, dass nicht nur der Hund auf Saltkrokan, sondern auch der Hund der Kleinen Strolche Bootsmann hiess. Und natürlich sein Hund, der Boxer-Rüde, klar, der auch. Es geht also insgesamt um drei Hunde, die Bootsmann heissen oder heissen sollen.

“Der hatte so ein fettes schwarzes Klätschauge”, sagt Rottner, “der Bootsmann von den Kleinen Strolchen.”

“Ja, der hatte ein schwarzes Klätschauge, aber der hiess nicht Bootsmann, der.. der hiess anders.. Schibulsky oder so.”

“Schibulsky? Der hiess doch nicht Schiebulsky! Das war doch kein polnischer Pfannkuchen!”

“Ah Mann.. natürlich hiess die Töle bei den Kleinen Strolchen nicht Schibulsky, das weiss ich auch, das war SPASS! Aber erst recht nicht Bootsmann..!”

“Na schön”, gibt Rottner sich geschlagen, als er spürt, wie ernst es mir damit ist. “Aber auf Saltkrokan, der dicke Hund, der heisst Bootsmann.”

“JA!” schreie ich. “DER SCHON!”

Über einen Bekannten erhielt Rottner die Anfrage, ob er nicht Lust hätte, dem örtlichen Boxerhundeverein beim Renovieren zu helfen. Das alte Blockhaus auf dem Vereinsgelände hatte es nötig. Na schön – Rottner war arbeitslos und handwerklich nicht ungeschickt, er schlug ein.

Nach vierzehn Tagen harter Arbeit kam der Vorsitzende des Vereins auf ihn zu und fragte, ob er, Rottner, unbedingt eine Rechnung brauche oder ob man das vielleicht auch so regeln könne, unter der Hand.

“Nö”, sagte Rottner. “Ich will ihr Geld nicht, ich will einen Hund.”

So kam es, dass unmittelbar nach dem nächsten Wurf des hochprämierten Zucht-Weibchens Daxa von Bückeburg, “oder wie die Boxer-Tante da hiess”, Rottners Telefon klingelte: er könne jetzt ins Clubhaus kommen und sich einen Welpen aussuchen. Jetzt, auf der Stelle.

Rottner latschte hin und entschied sich für einen flinken kleinen Rüden, dann latschte er wieder heim. Und dann dauerte es noch einmal zwei Monate, bis ihm der kleine Hund vorbeigebracht wurde, als Bezahlung für Renovierungsarbeiten am Clubhaus.

“Sagen Sie, haben Sie Erfahrung mit Hunden, Herr Rottner?”

“Hunde? Wer? Ich? Nö. Nicht direkt. Aber ich weiss schon, wie er heissen soll. Ich hab schon einen Namen.”

“Ja sicher. Das ist Carlo von Bückeburg, der II.”

“Hm? Nee, der heisst Bootsmann.”

Der kleine Hund ging in die Hundeschule und absolvierte die Welpengruppe, zuletzt die Rockergruppe. Allerdings ohne Rottner. Der hatte keine Lust mitzukommen, das übernahm die Frau des Vereinsvorsitzenden, zweimal die Woche, drei Monate lang, und auch nicht ganz freiwillig.

“Machen Sie mal”, hatte Rottner zu ihr gemeint, “Sie machen das schon. Hauptsache, Sie versauen mir den Hektor nicht.”

“Welchen Hektor?”

“Na den Bootsmann.”

Später gewann Bootsmann Preise auf Ausstellungen, er war von bemerkenswert schönem Wuchs, was Rottner auch nicht groß berührte, Schönheitswettbewerbe waren nichts für ihn, alles zu affig da unter all dem Gepudel.

Mittlerweile ist Bootsmann im besten Hundealter und Rottner und er sind gute Freunde geworden. Wenn Rottner, wie während der Maßnahme des Job-Centers, den halben Tag aus dem Haus ist, übergibt er Bootsmann in die Hände seiner Nachbarin.

“Die geht mit dem Joggen in der Heide. In Ordnung hab ich zu ihr gesagt, machen Sie mal, gehen Sie ruhig Joggen mit dem Kerl, Hauptsache, er kommt hinterher nicht zu mir an und beschwert sich, he, Langer, die Tante ist mit mir jeden Tag drei Stunden durchs Unterholz gehoppelt.”

8

Es dauert eine Woche und ich gerate mit einem 57jährigen Ex-Chefredakteur aneinander, der zudem eine halbe Karriere als Radiomoderator hinter sich hat sowie eine dreiviertel Karriere als Rockmusiker. Die Betonung liegt bei allen drei Karrieren auf hinter sich, was allerdings mit 57 nicht ungewöhnlich ist.

Früh am Morgen reisst er gleich das Maul auf, wenn auch mit einer angenehm klingenden, sehr sonoren Alexis Korner-Blues-Stimme, was den Stuss, den er absondert, halbwegs abfängt und mildert.

Er sei immerhin Chefredakteuer gewesen, mault er zum wiederholten Male vor versammelter Mannschaft, man habe ihn zu dieser Maßnahme “zwangsrekrutiert”. Als wären auch nur einer von uns freiwillig hier. Von welcher Zeitung er kommt, lässt er unerwähnt, trotz Nachfrage. Erst auf mein Drängen hin, ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe, rückt er mit dem Namen der Zeitung heraus,  “Die Brücke”.

Die Brücke ist ein Obdachlosenmagazin und wird in den bergischen Großstädten verkauft. Das ist an sich kein Grund, die Nase zu rümpfen, aber wenn jemand sich als ex-Chefredakteur aufspielt.. Na schön. Wir erfahren weiter, dass er in der Redaktion als 1-Euro-Kraft angefangen hatte, sich hocharbeitete und als die Zeit vorüber war, beschäftigte man ihn weiter, bezahlt aus Töpfen des Arbeitsamts.

“Die hatten mir versprochen, ich dürfte dableiben bis zur Rente. Und dann war plötzlich doch kein Geld mehr da”, jammert er sonor. (Der könnte ins Radio gehen, denke ich, da wusste ich das noch nicht mit seiner halben Radiokarriere.)

Es ist neun Uhr, als wir um den Tisch herum sitzen. Zuvor hat eine Krankenschwester einen 45minütigen Vortrag über Gesundheit und richtige Ernährung gehalten, so als wären Langzeitarbeislose zu doof zum Fressen. Die Krankenschwester ist allerdings okay soweit. Sie arbeitet im Klinikum im Nachtdienst und verdient sich tagsüber mit Vorträgen etwas hinzu. Sie ist der Typ vorsichtige Radfahrerin Mitte vierzig, der im Verkehr nervt, aber sie erinnert mich an meine Schwester. Da kann sie eigentlich sagen, was sie will, sie hat bei mir ein Stein im Brett.

Am Ende des Vortrags erzählt sie irgendetwas über Kalorienzufuhr, als der ex-Chefredakteur, der zufälligerweise neben mir sitzt, plötzlich ausholt, um seine Sicht der Welt darzulegen. Es beginnt mit unserer von riesigen Konzernen versauten Industrienahrung (wir werden mit Abfall zugestopft) und endet bei Quantenphysik. Für sich genommen macht das alles Sinn, doch er wirft alles in einen Topf und rührt darin herum, bis irgendein unausgegorener Mist herauskommt.

Besonders auf den Geist geht mir, dass seiner Meinung nach alles, was aus Indien und China kommt, gaanz toll ist, und alles was aus dem Westen kommt, gaanz böse. Da platzt mir der Kragen.

“Du redest nur Scheisse”, fahre ich von der Seite an. “Von vorne bis hinten nur Müll.”

Zuletzt hatte er behauptet, eine positive buddhistische Grundstimmung könnte bei Rauchern sogar Lungenkrebs verhindern.

“Mein Gott, natürlich erleichtert positiv denken das Leben, aber es macht den Krebs nicht weg! Das ist doch voll Kokolores.”

Ich werde aggressiv und rücke ihn mit seinem Gefasel in Sektennähe.

“Den Quark, den du zusammenquasselst und wie du das tust, erinnert an Scientology.”

Das Wort “Scientology” habe ich hinter meinem Rücken aufgeschnappt, wo es Rottner gerade ausgesprochen hatte, der Wärmepumpenaustauscher und Besitzer von Bootsmann, der den Scheiss auch nicht mehr mitanhören kann. Seltsamerweise reagiert der ex-Chefredakteur weniger auf meine Kritik als auf die Heftigkeit meiner Worte, die mich selbst überrascht hat.

“Ich wollte hier niemanden auf die Füße treten und Aggressionen auslösen”, sagt er.

9

Momo, der verhinderte Bodybuilder, berichtet von der wilden Zeit, als er davon träumte, Profi zu werden und die Kraftsportbühnen der Welt zu besteigen, mit eingeölten Muskelsträngen. Damals plante er den Tagesablauf strikt nach der Ernährungsvorgabe. Dazu gehörte auch, den Wecker auf drei in der Nacht zu stellen, um eine Portion Nudeln zu kochen und zu sich zu nehmen. Damit sollte der Körper mit den Kalorien aufgefüllt werden, die er im Schlaf gerade verbrannt hatte.

“Um den Energieabfall zu minimieren. Das war zu der Zeit, als ich gnadenlos auf Masse gemacht hab.”

Um auf Masse zu machen gabe er Monat für Monat Hunderte von Euro für Pülverchen und Vitamin-Shakes aus.

“Das war schon geil, das Massemachen. Mit Anabolika baut man viel schneller Muskelmasse auf als nur mit Training. Da glaubst du jeden Morgen, du könntest die Welt aus den Angeln heben. Doch sobald du die Anabolika absetzt, fällt alles zusammen und du bist nur noch Gewürm.”

Als Momo endete, war Stille. Ich fühlte mich fatal an Heroin erinnert. Nur dass Heroin keine Muskeln aufbaute, sondern Illusionen. Aber der Zusammenbruch war der gleiche.

Links neben mir sitzt eine hübsche Ukrainerin, die Mathematik und Statistik in Kiew studiert hat und in ihrem blauen 80er Jahre-Kostümchen an eine alternde Stewardess erinnert. Nach dem Ernährungs-Vortrag der Krankenschwester meldet sie sich und will wissen, wie man am effizientesten Bitterstoffe zu sich nehmen könne, doch die Krankenschwester kann nicht viel weiterhelfen.

Gewisse Gemüsesorten wie Fenchel enthalten Bitterstoffe, sagt sie. Doch würden Bitterstoffe zunehmend aus unserer Nahrung herausgeschwemmt, damit es fluffiger schmecke.

Pernod, sage ich, ist auch bitter, und links von mir die Frau kichert. Es ist die Frau mit schiefer Haltung, die behauptete, auch schon am Stein gearbeitet zu haben. Eine nette Frau. Dreimal verheiratet, drei Kinder von drei Männern. Stammt ursprünglich aus Freiburg und hat hoch im Norden in der Verwaltung eines Rüstungsbetriebs gearbeitet.

“Ich hatte die Panzerketten unter mir.”

In Solingen ist sie der Liebe wegen gelandet. Hat hier das dritte Mal geheiratet und 10 Jahre lang (wieso eigentlich immer genau 10 Jahre?) in einem Familienbetrieb Messer geschliffen. Seither ist ihr Rücken lädiert, vom langen Sitzen am Schleifstein.

Tatsächlich bildeten Haltungsschäden über Jahrhunderte so etwas wie das Krankheitsbild Nr. 1 unter der Solinger Arbeiterschaft, und noch heute sind orthopädische Deformationen dieser Art im Stadtbild präsent: Buckel, Höcker, Schulterkröpfe.

10

Ausser einem EDV-Spezialisten befindet sich in jeder Maßnahme auch ein Zombie. Ein graues Etwas, das auf seinem verhuschten Pfad durchs Dasein gerade Station in der Langzeitarbeitslosigkeit macht. Wobei an dieser Stelle einschränkend gesagt werden muss: Langzeitarbeitslosigkeit beginnt definitionsgemäß bereits nach einem Jahr ohne steuerpflichtige Beschäftigung. Meines Erachtens ist man nach einem Jahr aber noch lange nicht langzeitsarbeitslos. Dazu fehlt dann doch noch ein bisschen was.

In unserer Stabilisierungs-Maßnahme heisst der Zombie Eileen. Eileen ist um die vierzig und hat es an den Nerven. Das Haar gebrochen und voller Spliss, der Blick getrübt, der Mund eine Kneifzange, dazu nachlässige Kleidung – insgesamt ist Eileen eine einzige Altlast.

Einmal stapfen wir nebeneinander durchs Treppenhaus. Sie ist furchtbar unsicher und wägt ihre Worte ab, sie will bloß nichts dummes, nichts falsches sagen. Da tut sie mir ein bisschen leid, und fortan mag ich sie.

Sie zählt zur Abteilung Ich möchte keinem auf den Wecker gehen, aber ich bin so unglücklich, merkt das denn niemand? Nicht selten weiss ich bei diesen Menchen nicht, wie ich ihnen meine Sympathie deutlich machen kann, ohne sie gleich in die Arme zu schliessen. Ein aufmunterndes kleines Lächeln hier, ein aufmunterndes kleines Lächeln da, das kann jedenfalls auf Dauer dümmlich wirken und eher das Gegenteil bewirken.

Also belasse ich es oft bei meiner heimlichen Sympathie und gehe davon aus, dass diese Mitmenschen meine Gefühle schon irgendwie mitkriegen, oder zur Not eben erraten. Eine trügerische Annahme, die mich im Leben schon oft in die Bredouille gebracht hat.

In einem Fall wie Eileen geht es nur darum, dass jemand spürt, dass ich auf seiner Seite bin, doch in anderen Fällen wurde ich schon komplett missverstanden, nur weil ich den Mund nicht aufmachte. Weil ich davon ausgegangen war, dass Menschen meine Gedanken und Blicke schon richtig einschätzen.

So war ich automatisch davon ausgegangen, dass meine beiden Geschwister es mir nicht verübelten, dass ich kaum noch Einladungen annahm, ob zum gemeinsamen Essen, zum Spieleabend oder zum traditionellen Osterfeuer. Aus dem einfachen Grund, dass ich keinen Alkohol mehr trank und mir jede Gesellschaft nach spätestens einer Stunde lästig wurde und ich nur noch heim wollte. Das müssen die doch wissen, dachte ich. Die kennen mich doch. Pustekuchen.

Was ich dabei nämlich unterschlug: Andere Leute, selbst Geschwister, die mit dir aufgewachsen sind, haben den Kopf und das Herz voll anderer Dinge, die ich nicht mitkriege. Das macht es so nötig, dass man sich hinstellt und sagt, was man will und was man nicht will, was man mag und wasn man nicht mag, was man schlachtet oder besser heile lässt, was man küsst oder fortstößt, was man sich einverleibt oder was man auskotzt.

Wer sagt, was er will, kriegt, was er braucht, meint die Gräfin, als ich abends nach Hause komme und von meinem Tag erzähle. Zum Abendessen gibt es überbackenes Fenchelgemüse.

Bitterstoffe, sag ich.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-19