Schlagwort-Archive: Papier

Und noch zehn Minuten bis Buffalo

Niagara Falls
Niagara Falls

••• Gestern von früh bis zum frühen Nachmittag Broterwerb. Die Veranstaltungen hier sind nicht honoriert, das Marketing-Budget knapp. Ich konnte nicht für die ganze Zeit frei nehmen. Deshalb habe ich mein mobiles Büro dabei und saß in meiner Hotelsuite über Sourcecode. Gegen 14:00 Uhr wurden wir von Chad und Joy (zur Zeit Praktikantin bei Open Letter) mit dem Auto abgeholt. Die Lesung in Buffalo war für 19:00 Uhr angesetzt. Wir wollten davor noch einen Abstecher zu den Niagara Falls machen. Auf dem Weg nach Toronto hatten wir die hoch aufsteigende Säule des Niagara-Nebels gesehen. Da wollte ich gern hin.

Niagara Falls
Niagara Falls

Das Wetter meint es gut mit uns. Geregnet hat es bislang nur nachts. Gestern hatten wir strahlenden Sonnenschein, und es war warm. Einen besseren Tag hätten wir uns für den Ausflug nicht aussuchen können.

Benjamin Stein und Brian Zumhagen vor dramatischer Kulisse
Autor und Übersetzer vor dramatischer Kulisse

Nach dem Rückweg nach Buffalo und Dinner in einem zünftigen Restaurant kamen wir schließlich bei »Talking Leaves« an. Das ist DER Independent Bookstore in Buffalo. Er wäre es auch, wenn es mehrere gäbe.

Talking Leaves ist DIE Buchhandlung in Buffalo
Talking Leaves ist DIE Buchhandlung in Buffalo

Zwischen den Regalen dieser Buchhandlung kann man vermutlich ein halbes Leben zubringen, ohne dass es langweilig würde. Es ist ein Jammer, dass es natürlich immer schwerer wird für »Talking Leaves« und die Inhaber immer erfinderischer werden müssen, um nach 40 Jahren das Geschäft aufrechterhalten zu können. Stöbern wie hier – das wird nun online nie möglich sein. Es ist ganz einfach eine andere Welt.

Lesung bei »Talking Leaves«
Es kam schon noch Publikum: aufmerksam, engagiert und fragefreudig. (re. Joy Hawley)

Wir hatten nur wenig Publikum. Freitags finden hier in Buchhandlungen normalerweise keine Events statt. Die Zuhörer aber, die gekommen waren, hörten hochinteressiert zu und stellten eine Menge sehr interessanter Fragen zum Buch, zur Poetologie, zur Rezeption des Textes in Deutschland und Israel u.v.m.

Im Gespräch mit den »Talking Leaves« Jonathon Welch und Lucy Kogler
Im Gespräch mit den »Talking Leaves« Jonathon Welch und Lucy Kogler

Ich konnte anschließend noch mit Inhaber Jonathon Welch und mit Lucy Kogler sprechen und über Bücher, Autoren und Filme fachsimpeln. Lucy arbeitet seit 30 Jahren für »Talking Leaves« und führt den zweiten, in Uni-Nähe eröffneten Laden.

v
Auch in Buffalo bin ich auf einen Aushang gestoßen, der mich schmunzeln ließ. Diese historische Anzeige für Papierhandtücher hat seinerzeit für viel Aufregung gesorgt. Fotografiert habe ich sie auf dem stillen Örtchen bei »Talking Leaves«, wo die Klospülung eine Gebrauchsanleitung hat: »… and press 1 for more options.«

Auf dem Weg von den Niagara Falls zurück nach Buffalo kam mir Fontanes Ballade über die »Schwalbe« in den Sinn. Buffalo liegt zwischen dem Erie- und dem Ontario-See. Von dem Gedicht, das wir seinerzeit in der Schule auswendig lernen mussten, war mir nur noch eine Zeile fest im Gedächtnis: »Die ‘Schwalbe’ fliegt über den Erie-See«. Und natürlich der dramatische Countdown: »Und noch zehn Minuten bis Buffalo«.

Das ist natürlich eine Erinnerung, die mit vollem Recht hier in den Turmsegler gehört.

John Maynard

John Maynard!
»Wer ist John Maynard
»John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«

Die »Schwalbe« fliegt über den Erie-See,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;
von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
die Herzen aber sind frei und froh,
und die Passagiere mit Kindern und Fraun
im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
und plaudernd an John Maynard heran
tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
»Noch dreißig Minuten … Halbe Stund.«

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
da klingt’s aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
»Feuer!« war es, was da klang,
ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,
ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.

Und die Passagiere, bunt gemengt,
am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
am Steuer aber lagert sich´s dicht,
und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? wo?«
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. –

Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
der Kapitän nach dem Steuer späht,
er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
aber durchs Sprachrohr fragt er an:
»Noch da, John Maynard?«
»Ja,Herr. Ich bin.«

»Auf den Strand! In die Brandung!«
»Ich halte drauf hin.«
Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«
Und noch zehn Minuten bis Buffalo. – –

»Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallt’s
mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halt’s!«
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!

Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!

Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell’n
himmelan aus Kirchen und Kapell’n,
ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
und kein Aug’ im Zuge, das tränenleer.

Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
mit Blumen schließen sie das Grab,
und mit goldner Schrift in den Marmorstein
schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:

»Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
hielt er das Steuer fest in der Hand,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«

Theodor Fontane (1819–1898)

O-26 W. IN B.

pflegeleicht der Mann, angeblich,
Gehen Sie weg, ein zweites Mal,
lauter, und man ging weg.

Und vom Schnee, den weiten Wegen,
immer mit Hut, oft mit nassen Hosen zurück,
sonntags, auch an manchen Samstagen.

Struktur der Woche: Arbeit bis ½, ¾ 11,
zusammenräumen, Tisch putzen,
dasselbe von ½ 2 bis ½, ¾ 5.

Dazwischen, und danach, das Essen.
Bettruhe ab ½ 8, daran rüttelt niemand,
am wenigsten er, aus Prinzip.

Eigenbrötler, sich selbst stets genug.
Und am Abend auf die Menge Arbeit sehr stolz.
Am Morgen Klopfen: Es ist Zeit!

Tasse, Löffel, Gabel – kein Messer.
Und immer den Anschnitt in Stückchen
zerrissen, einen schönen Haufen daraus.

Die eine Hälfte in die erste Tasse Kaffee,
die andere in die zweite;
beide langsam ausgelöffelt und ausgeputzt.

Hager, knochig, nicht mager, sehr adrett –
so Schritt für Schritt über die Berge,
immer am Kopf oder in der Hand den Hut.

Schreibend mit sehr kurzem Stift,
wenn keiner in der Nähe ist, auf das Fensterbrett,
geschwind aus dem Papiervorrat oben im Gilet.

Sonst alles versteckt. Commishaftes
Abschreibsystem, wie er selbst sagt,
sonst alles versteckt.

Überall, wo er gewesen war,
bald weitergegangen, immer weiter,
aus freier Lust am Austreten, ungejagt.

Schlendernd, hin- und herfegend
in einem so heiteren, für alle aufgeräumten Land,
auch sehr gesprächigen, voller Geduld

auf Schneeglöckchen wartend anstelle von Rosen,
zwischen den Seen, bisweilen auch unentdeckt
in einem Zelt am Fuß des Himalaya

(Sonntag, 17.8.2003, 16.30 Uhr, Berlin)

Kurztitel & Kontexte bis 2012-12-23

Kurztitel & Kontexte bis 2012-12-09

  • in|ad|ae|qu|at » Salon Littéraire | Dieter Sperl : DIARY SAMPLES VIII http://t.co/PUPF25J5 Dec 09, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Zweiter Advent mit Weihnachtsmarkt… http://t.co/aNcKLkqn Dec 09, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Noli me tangere http://t.co/pgtFhdPV Dec 09, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » tod in peking http://t.co/OhEi8IuS Dec 09, 2012
  • parallalie » inverno http://t.co/TnQ5I1DP Dec 08, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Einmachnotiz http://t.co/IAr8pLjN Dec 08, 2012
  • der goldene fisch » Carolin Callies : http://t.co/JFrmD33q Dec 08, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Der Lauf der Zeit(ungen) http://t.co/yTzlnEnb Dec 08, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Später Schreibtisch, mit einem You… http://t.co/qndRCDa8 Dec 08, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 7.12.12. http://t.co/WfEAL6I6 Dec 08, 2012
  • e.a.richter » DB-042 17 (Du kannst dir vorstellen) http://t.co/U3rtepVt Dec 08, 2012
  • Tainted Talents (Ateliertagebuch.) » good mornin‘ : ) http://t.co/NDOGjEPT Dec 08, 2012
  • isla volante » erinnerung http://t.co/PoSkVAib Dec 08, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » @etkbooks twitterweek (20121208) http://t.co/mqovT2X1 Dec 08, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Morgengeplänkel http://t.co/9t5hCbrD Dec 08, 2012
  • rheinsein » Parfüm http://t.co/tjfAfGRs Dec 08, 2012
  • Gleisbauarbeiten » ***TRIGGER-Warnung*** MOEPSE UND ABNEHMEN http://t.co/tjeeMDNv Dec 08, 2012
  • in|ad|ae|qu|at » VideoSamstag : schön surreal http://t.co/NrYPBkpx Dec 08, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » MELDUNG : paleochora http://t.co/PgGZ07s5 Dec 08, 2012
  • schwungkunst.blog » Zeichen des Glücks an der Wiege http://t.co/0mvLiNsh Dec 08, 2012
  • Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! » Lesen http://t.co/qn2iWOJm Dec 07, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Frankensteinnotiz http://t.co/UFKULE3r Dec 07, 2012
  • 500beine » Das Geheule von heute ist das Gelächter von morgen, sagt die Gräfin http://t.co/2BHLY1N1 Dec 07, 2012
  • Gleisbauarbeiten » EROSIONSPANIK. HANDAN-DEFIZIT (Zu Perihan Magdens: Zwei Mädchen.Istanbul-Story) http://t.co/INDmrU37 Dec 07, 2012
  • e.a.richter » DB-041 17 (Beate blickt Götz mißbilligend an) http://t.co/Siav0rDl Dec 07, 2012
  • isla volante » erinnerung http://t.co/zaOnXOmc Dec 07, 2012
  • rheinsein » Das Lachen der Hühner – Sonderedition (2) http://t.co/RORp5eJ7 Dec 07, 2012
  • rheinsein » Das Lachen der Hühner – Sonderedition http://t.co/CKrUX3Cj Dec 07, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » Remember Rimini http://t.co/tmdpVzHG Dec 07, 2012
  • in|ad|ae|qu|at » mitSprache 2012 Dokumentation | Peter Waterhouse : Versuch über Flucht und Recht und Sprache | Video http://t.co/A7M5FPsh Dec 07, 2012
  • Gleisbauarbeiten » Gedächtnisstütze: Eigentlich… http://t.co/wE2EEUOK Dec 07, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Die nächste Auszeit kommt bestimmt http://t.co/SKlhtyHU Dec 07, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Arbeitsjournal. 7. Dezember 2012. http://t.co/0QGURZi3 Dec 07, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » nachtgecko http://t.co/UkDz55bz Dec 07, 2012
  • in|ad|ae|qu|at » Twitter Week vom 2012-12-06 http://t.co/ZakUqipd Dec 06, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » passagen http://t.co/6NjWfoRc Dec 06, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Beredtes Schweigen http://t.co/Oyw69W0c Dec 06, 2012
  • Glumm » As my mother lay dying http://t.co/syC1RRSS Dec 06, 2012
  • Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! » Alt und neu zugleich http://t.co/N3PhsSwO Dec 06, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Leben und Sterben im Wohnzimmerpark http://t.co/aFxMPlKx Dec 06, 2012
  • e.a.richter » DB-040 (16) (Gleich geht es weiter) http://t.co/RHebkdcK Dec 06, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Allerlei Fälle http://t.co/FWjLiayr Dec 06, 2012
  • der goldene fisch » Christine Kappe : Momente / Memos II http://t.co/NncdnQ3H Dec 06, 2012
  • roughblog » EINLADUNG zu einem Abend mit Konstantin Ames, Michael Braun und Norbert Lange: W e l t w a i s e n. … http://t.co/uVrcKHSe Dec 06, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » Blatt 21 (in diesem Reiche, ich will Gesellschaft euch leisten!) http://t.co/NRH6qbRk Dec 06, 2012
  • Gleisbauarbeiten » HÜFTSPECK („Zu schwer, um davon zu fliegen“) Entwurf http://t.co/mWK1aATI Dec 06, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 5.12.2012. http://t.co/XOaHH0AV Dec 06, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Nun l i e g t er, S c h n e e. Auf… http://t.co/Vd6paoXe Dec 06, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Kurznotiz eines Überlebenden http://t.co/UMc89q1D Dec 06, 2012
  • Tainted Talents (Ateliertagebuch.) » Selbstvergewisserungstraining, 1 http://t.co/NHHQ1Xlh Dec 05, 2012
  • parallalie » wie es ihm … http://t.co/KB6PnnkM Dec 05, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Mit einem Wort: Chillen! http://t.co/0YV5ONKa Dec 05, 2012
  • Gleisbauarbeiten » Spannend: GELD UND GOTT. Der Preis des Geldes http://t.co/tp3f0Crc Dec 05, 2012
  • Glumm » Gebell von fernen Höfen http://t.co/YI38XHQy Dec 05, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das Nichtverständliche. Argo.Ander… http://t.co/sjslDZX2 Dec 05, 2012
  • e.a.richter » DB-039 (16) (Ludwig grinst Julia an) http://t.co/mJaQ9xF6 Dec 05, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Erster Schnee, dazu Sonne ODER Sta… http://t.co/JiidYUcH Dec 05, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 4.12.2012. http://t.co/xt0KFXFu Dec 05, 2012
  • rheinsein » Lörick, Limerick, Bingerick http://t.co/DzFOMkmo Dec 05, 2012
  • Tainted Talents (Ateliertagebuch.) » U make me smile http://t.co/jssSVHMk Dec 05, 2012
  • isla volante » beckett http://t.co/20GFm3ya Dec 05, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » 033 http://t.co/3dR6Mywa Dec 05, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » schildkröte http://t.co/T13lCtsJ Dec 05, 2012
  • schwungkunst.blog » ameise : hamster http://t.co/VvD6zHh0 Dec 05, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Die Kurzeitaussteiger http://t.co/kDPTWSfe Dec 05, 2012
  • mitSprache | 2012 » mitSprache 2012 Dokumentation | Peter Waterhouse : FÜGUNGEN. Versuch über Flucht und Recht u… http://t.co/5QGrylnF Dec 05, 2012
  • rheinsein » Rheinzitat (11) http://t.co/3ZsJQ0Gl Dec 04, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Ohne A macht B keinen Sinn http://t.co/OHGwaNCP Dec 04, 2012
  • Gleisbauarbeiten » TAUWETTER („Männer wie wir…“) http://t.co/RkChvNRI Dec 04, 2012
  • Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! » Marktwert & Auslieferung http://t.co/yTv2tU1R Dec 04, 2012
  • e.a.richter » DB-038 (16) (Julia findet ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch) http://t.co/o3aPWpma Dec 04, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Substanzen ODER Der Oberst Böhm in… http://t.co/aKohMMmT Dec 04, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Die Chica, ein Mantel und der Zunami. http://t.co/mePgsdVN Dec 04, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Gesundend I, dennoch nicht recht w… http://t.co/e62U3y8P Dec 04, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » Salzkristalle & Trüffelpilze (Auszüge, 11/2012) http://t.co/Wm8UdduC Dec 04, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 3.12.2012. http://t.co/ocF0vtes Dec 04, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » gramm http://t.co/sbGXfa0O Dec 04, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Notiz für eine Geschäftsidee http://t.co/J7PV4AWF Dec 04, 2012
  • mitSprache | 2012 » mitSprache 2012 Dokumentation | Peter Waterhouse : FÜGUNGEN. Versuch über Flucht und Recht u… http://t.co/t0bQP5xi Dec 04, 2012
  • Die Veranda » Erste Erwähnung des Vielgereisten Mantels http://t.co/NR8dok3j Dec 03, 2012
  • Ze Zurrealism Itzelf » Lass mich noch mal dein Kleingedrucktes lesen http://t.co/N5lmqSfG Dec 03, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Gewalt ist eben auch eine Lösung http://t.co/9G4jQeKZ Dec 03, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Der Nachmittag, an dem ich zu meinem eigenen Klischee wurde http://t.co/77vpXmvK Dec 03, 2012
  • Gleisbauarbeiten » DANKE, Alice! http://t.co/dAC9pGy8 Dec 03, 2012
  • Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! » Lyrik lesen (II): Thomas Kade http://t.co/Cep9ukml Dec 03, 2012
  • e.a.richter » DB-037 16 (Stefan tastet sich langsam vor) http://t.co/aL9RtlMh Dec 03, 2012
  • Gleisbauarbeiten » Ein Montag wie viele… http://t.co/P9h4TTat Dec 03, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Abebbend nochkrank. Das Arbeitsjou… http://t.co/55QBTWFS Dec 03, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 2.12.2012. http://t.co/MMDUfVHI Dec 03, 2012
  • in|ad|ae|qu|at » NEUES VON FREUNDEN http://t.co/fhACJvvc Dec 03, 2012
  • taberna kritika – kleine formen » 18 (h.c. artmann-vitrine, unbeanstandet) http://t.co/7kD6xwUG Dec 03, 2012
  • isla volante » citypoppi http://t.co/DZTBVWTF Dec 03, 2012
  • http://t.co/4AWzmiTK weekly wurde gerade veröffentlicht! http://t.co/JYO0nFCP ▸ Topthemen heute von @litblogs_net Dec 03, 2012
  • Tainted Talents (Ateliertagebuch.) » Löcher in die Luft http://t.co/GvlIDsvD Dec 03, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Abfall der Stunden http://t.co/fIBTzDlY Dec 03, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » schnee http://t.co/WhkVN1Ti Dec 03, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » advent http://t.co/e22lvJvb Dec 02, 2012
  • andreas louis seyerlein : particles » advent http://t.co/BEwTNIiN Dec 02, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Guido N. Rohm http://t.co/rJRokbcA Dec 02, 2012
  • rheinsein » Der Dom zu Cölln. Ein Fragment http://t.co/auufzDbb Dec 02, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Tod und Spiele http://t.co/lfq2WLsu Dec 02, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Lotos I http://t.co/H2YSYZd3 Dec 02, 2012
  • e.a.richter » DB-036 (15) (Das Hauptmotiv Ihres Lebens) http://t.co/AumcSFvk Dec 02, 2012
  • Gleisbauarbeiten » BLENDUNG („Im Netz des Grauens“) (2010) http://t.co/MXdvfVLT Dec 02, 2012
  • Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen! » Würden Zahnräder, wenn sie ein Bewußtsein hätten, Bücher schreiben wollen? http://t.co/fWTUfehv Dec 02, 2012
  • der goldene fisch » Gerald Koll : Zazen-Sesshin (48) http://t.co/4mVXIli0 Dec 02, 2012
  • Tainted Talents (Ateliertagebuch.) » Pssst! http://t.co/5GL7ClOe Dec 02, 2012
  • isla volante » erinnerung http://t.co/wCGepn4n Dec 02, 2012
  • Die Veranda » Sonntag, 2. Terzchamber 2012, Kronenstraße http://t.co/yUdC8OeJ Dec 02, 2012
  • Guido Rohms gestammelte Notizen » Tiefer Schneefall http://t.co/bNHXPPwa Dec 02, 2012
  • Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) » Das DTs des 1.12.2012. http://t.co/Ho0MPvy8 Dec 02, 2012

Sonntag, 12. August 2012

(Scheußlich sind die Tage unter dem Virenmond. Fett ist mir die alte Erkältung in die Glieder gekrabbelt, festgebissen hat sie sich wochenlang. Erika Fuchs würde übersetzen: Hust, hust, schnief, schnief, hatschi.
Sicher schon der siebte oder achte Infekt in diesem Jahr. Es verfolgt mich dieses leichte Fieber, seit meine Mutter mich ausgespuckt hat. Ich erinnere Schnee im grauen Raum hinter meinen glühenden Augenlidern, ein Gekrissel, das sich auf das ICH legte und es eindeckte nächtelang.
Schon wieder war ich zwei Woche in dieser zeitlosen Welt der Krankheit eingewickelt, und in mir schwappte eine Sehnsucht nach Sanostol empor. Nur schade, dass man sich als ausgebildeter Vater nicht einfach hinlegen kann, dass man vielmehr dem Kind schlapp hinterher hetzen muss, denn das Kind ist nur ein Überträger, das Kind wird nie krank, weil das Kind einen gesunden Lebenswandel hat, und nicht raucht, und nicht trinkt).
Hier bin ich also wieder, zwar mit einem Ziehen und Zwacken in den Gliedern, mit einem entfernten, hölderlin-artigen Frühlingsgefühl in den Knochen, aber noch haben sie mich nicht in den Turm gesteckt.
Ich las die letzten Tage wieder – nach Jahren – seine späten Gedichte, die mich schon hingerissen haben, als ich Zwanzig war. Damals wollte ich meinem eigenen Urteil nicht trauen; ich fragte mich: hat das nicht ein Wahnsinniger geschrieben, ein Mann, dem die Synapsen durchgebrannt sind; sollten nicht die früheren, die klassischen Gedichte besser sein, kann man diesen ewigen FrühlingSommerHerbstUndWinter denn lieben?
Jetzt lese ich sie wieder, die letzten Verlautbarungen des guten Scardanelli, und es schlägt mir mitten ins Herz, schlägt gegen den Takt meiner Herzschläge an.
So eine eisige Klarheit, so ein fokussieren auf die unwesentlichen, auf die echten und übersehenen Dinge, das ist es, was diese späten Hölderlin-Gedichte ausmacht. Während der Herr Hölterlein ausgemacht war… von seiner Welt, Umwelt, Umbra Vitae. Er musste nur mal schnell austreten (das Aas treten), musste nur mal schnell neben sich her treten, in die Welt hinein treten, ganz andere Wege gehen. Und kritzelte ab und an auf Papier, so wie es gut hundert Jahre später der Herr van Hoddis tat, dem man die Papiere wegnahm, von dem nichts scardanelli-artiges übrig blieb, weil seine Lehnsherren in den Irrenasylen nichts von dem Gekritzel verstanden. Sie haben es nicht vernichtet, sie haben es einfach nur weggeschmissen, kurz bevor van Hoddis nach der Vorhölle verschifft wurde.
Ich las das auf einem Kindle (mein neues Interface in die Gutenberg-Galaxis), und es war ganz umsonst, dieser Text, diese Poesie. Die ich mir herunter lud für UMME (Hölderlin nimmt die WUMME und lässt dein Gehirn an die Raufasertapete des Turmzimmers spritzen. Spritz, spritz).
Ah, das schönste Spielzeug, ein E-Book-Reader (don´t follow leaders, watch the e-book-readers). Ich bin so glücklich und begeistert am Anfang dieses Umbruchs zu stehen, in einem Zeitalter zu leben, das es mit dem Gutenbergs aufnehmen kann. Ich habe eine Luther-Bibel in den Händen (89 Cent im Kindle-Shop), ich werde dabei gewesen sein, zu dem Zeitpunkt werde ich dabei gewesen sein, an dem die Welt eine andere wurde, als die größte intellektuelle Revolution des 21ten Jahrhunderts begann. Ihr werdet sagen: Voß, haben wir es nicht auch eine Nummer kleiner. Und ich werde sagen: Nein, ihr Ignoranten.
Ich werde auf eure Bücher spucken. Im Licht meines Kindle-Bildschirms.
Jetzt muss ich wieder husten, der Schleim löst sich schwerfällig, die Nacht ist auch erkältet – Sommer, wer bist du, dein Gesicht habe ich lange nicht mehr gesehen. Nenn mich Herbst, mein Junge, ich habe Stoppeln aus gelbem Kraut im Gesicht, meine Füße sind kalt und rau, meine letzte SMS geht an die kalte Schlampe Winter.
Aber es war ein schöner Tag, auch wenn ich Hitzewallungen hatte, hochgedrückt im Körper vom letzen Aufflammen des Fiebers.
Wir saßen am Wahnsee, wir waren auf einem Fest. Meine Frau hustete wie Franz Kafka im Frühjahr 1924. Aber das Kind, der Überträger, das war glücklich. Es lief mit den anderen Kindern unter Kastanien und Eichen zum Ufer. Von der Terrasse aus beobachtete ich ihn, schaute zu ihm hin, sah den kleinen, blonden Jungen, wie er von den größeren Kindern getragen und herum gewirbelt wurde, sah, wie er lachte und glücklich war.
Das Kind stand an einem alten Baum und zählte bis Zwanzig. Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein. Ich komme!
Und die Nacht senkte sich ganz langsam, und der See glitzerte ein letztes Mal, und die Kinder sprangen in die Dämmerung.
Und ich musste an Kafkas Buch „Betrachtung“ denken, und dass diese erste Miniatur dort das atemlose, sommerwarme Gefühl von elternlosen Kindern besser beschreibt, als ich es je könnte. Das Gefühl von Sand unter den Füßen, den Eindruck, den die Schattenrisse vor dem letzten Licht machen. Am See schwanken die Segelboote auf der dunklen Fläche, und die Takelagen machen dieses Geräusch, für das es noch kein Wort gibt. Die Eltern sind weit entfernt, man hört sie kaum, nur ein verwehtes Lachen und Tuscheln. Hey, dort ist ein Zaun, und in dem Zaun ist ein Loch. Ob es dahinter wohl in eine andere Welt geht?
Ich sah mein Kind, und ich sah, dass es glücklich war, und deswegen war ich glücklich.
Ich stand auf der Terrasse und aß Roastbeef, und dort drüben, gleich hinter dem nächsten Yachtclub, da hatte Kleist ein Verhältnis mit einer Pistole gehabt, und ein Stück weiter, im kalten, kalten Winter hatte Heym nicht aufgepasst.
Aber mein Kind leuchtete mit seinen blonden Haaren in die Nacht hinein. Und war ein Leichtturm des Lebens.

Karl Friedrich Schinkel „Der Morgen“

.

Das literarische Weblog als Nachlaß zu Lebzeiten!

Ja, es gibt sie noch, die guten alten Leser und Leserinnen. Sie alle lesen, das ist nicht weiter überraschend, Texte – was sonst. Klar, man kann sich auch an der Weinlese beteiligen, doch das ist etwas ganz anderes. Texte also. Es gab vor einer Weile die pejorative Äußerung einer hochgehandelten Schriftstellerin über diejenigen Leser, die nicht den auf Papier gedruckten Text bevorzugen, sondern den, na ja, nicht gedruckten. Ich lese im Moment mit dem größten Vergnügen “Nachlaß zu Lebzeiten” von Robert Musil und habe dabei gerne ein Buch in der Hand. Natürlich, so richtig gedruckt ist das auch nicht mehr, das Digitale zeigt sich ein wenig in der glatten Oberfläche des Papiers, das sich eben genau so anfühlt, als sei es ohne Text. Doch gleichviel, Text bleibt Text, da beißt die Maus kein’ Faden ab.

Robert Musil schreibt in seiner Vorbemerkung übrigens: “Warum Nachlaß? Warum zu Lebzeiten? Es gibt dichterische Hinterlassenschaften, die große Geschenke sind; aber in der Regel haben Nachlässe eine verdächtige Ähnlichkeit mit Ausverkäufen wegen Auflösung des Geschäfts und mit Billigergeben. (…): ich habe jedenfalls beschlossen, die Herausgabe des meinen zu verhindern, ehe es soweit kommt, daß ich das nicht mehr tun kann. Und das verläßlichste Mittel dazu ist, daß man ihn selbst bei Lebzeiten herausgibt; mag das nun jedem einleuchten oder nicht.”

Die Texte dieses Büchleins sind übrigens oft wunderbare kleine Arbeiten, die im ersten Drittel des 20. Jahrhundert verstreut erschienen und dann gebündelt worden sind zwischen zwei Buchdeckeln, weil der Autor selbst sie in trüben Zeiten retten wollte, verfügbar machen wollte, weil sie es ihm wert waren. Heutzutage würde Robert Musil vielleicht ein literarisches Weblog führen, die Texte also gleichsam digital retten, bevor sie dann – vielleicht – doch noch gedruckt würden. Oder eben auch umgekehrt, er würde vergriffene Texte auf seiner Seite einstellen. Das mit dem musilschen Weblog ist naturgemäß nur Spekulation, doch was der ein oder andere führende Literat dazu sagen würde, das kann man sich trotzdem denken.

Ich lese jedenfalls in literarischen Weblogs, die ja zum Glück hier und da gebündelt und gesammelt werden und die tatsächlich etwas haben von einem Nachlaß zu Lebzeiten in dem Sinne, wie es Robert Musil beschrieb; man denke an Die Dschungel oder an Gleisbauarbeiten, die sich trotz der Namensgebung keineswegs gegenseitig bekämpfen, und noch viele, viele weitere. Diese Art der Herausgabe von Literatur mag nun jedem einleuchten oder nicht, doch auch ich denke da ganz pragmatisch, denn warum warten, bis man tot ist.

10.30 – Großer Herzinfarkt

Oder: Eine koronare 3-Gefäßerkrankung, wie es in den Entlassungspapieren des Städtischen Klinikums geschrieben steht. Es begann vor drei Wochen, an einem Donnerstagmorgen. Wir saßen beim Frühstück, und sie blickte mich von der Seite an.

“Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge”, sagte sie.

Was sie manchmal so sagt, morgens. Kleine rätselhafte schöne Sachen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, den Schlaf aus dem Auge zu reiben, denn das war es ja, worum es ging, doch dann würde es ja nicht mehr glitzern. Das machte keinen Sinn. Das würde niemand wollen. Also liess ich es so, wie es war, eine Spezialität von mir, an die kaum jemand heranreicht, bis heute nicht, und beschäftigte mich wieder mit meinem Marmeladenbrötchen und der Wochenzeitung. Man reibt sich keinen Schmuck aus dem Auge, dachte ich, schon gar nicht, wenn es eine Träne ist.

Tears are a boy’s best friend.

Während sie nach dem Tee griff und schon beim nächsten Thema war, ihre Ausstellung in Remscheid sollte zwei Tage später beginnen, nahm ich das Notizbuch vom Frühstückstisch und hielt den Satz fest, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge. Dahinter ihr Kürzel S., um in Fragen des Urheberrechts erst gar keine Unsicherheit aufkommen zu lassen, und das Datum, 10. Mai 2012, zu dem ich meinen ersten schnellen Senf beigab:

Na. Ich weiß auch nicht.

Anderthalb Stunden später, viertel vor elf, raste ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn durch die Nordstadt ins Klinikum, mit mir hinten drin. Herzinfarkt. Mitten in der Fußgängerzone. Bei schwüler Hitze, zwischen Sparkasse und Stadtkirche am Fronhof. O LAND LAND LAND, HÖRE DES HERRN WORT. Mit dem Hund an der Leine und einem wild trompetenden Elefanten auf dem Brustkorb. Das ist ein Herzinfarkt, ging es mir durch den Kopf. (Davon an anderer Stelle mehr.)

“Einmal Diazepam läuft durch!” hörte ich im Rettungswagen den Sanitäter und ich lag da und dachte, Scheiße, Dias, die machen nur wirr im Kopf, und verlor das Bewusstsein, schmierte ab, “HE! JUNGER MANN!” Kehrte zurück. Was ist mit dem Hund, sagte ich schwach. Haben Sie die Nummer meiner Frau notiert? Die richtige Nummer? Sie ist bei meiner.. Schwiegermutter. Keine Sorge. Darum wird sich gekümmert, sagte der Notarzt. Und wir kümmern uns um Sie, fügte eine andere Stimme hinzu.

Mit Diazepam fortlaufend ruhig gestellt wurde ich an der Krankenhausambulanz vorbei in die Kardiologie gerollt. Herzkatheterraum. Der Oberarzt schimpfte, weil ich nicht still liegen wollte, erst seine massive Zurechtweisung, HERRGOTT, WIR WOLLEN IHNEN DOCH NUR HELFEN, und die Drohung SONST MÜSSEN WIR SIE FIXIEREN zeigten Wirkung. Zwei Engstellen in den Herzkranzgefäßen (“voller Plaque”) wurden per Ballon aufgedehnt und anschliessend mit Stents versorgt, um die Gefäße offen zu halten. Stents. Sind kleine Gittergerüste, sagte der Oberarzt. Klettergerüste? Ich sah einen von Plaqueablagerungen verwüsteten Kinderspielplatz vor mir. Auf links gedreht, die Luft raus. Ab hier kein Transport. Minimalinvasiv.

Was noch Eindruck hinterliess: die Kühle auf dem OP-Tisch, die routinierte Geschwindigkeit, mit der das OP-Team mich entkleidete, und wie gekonnt eine OP-Schwester mit dem Einmalrasierer einen Teil meiner Schamhaare rasierte. “Wir müssen an Ihre Leiste ran.” Kalter Schweiß, weisser Pimmel. O Herr, soll ich jetzt hochkommen?!

Als ich am frühen Nachmittag auf die Intensiv gebracht wurde, war ich verblüfft von der Helligkeit und Freundlichkeit der Station. Die todkranke alte Frau neben mir wurde von Schläuchen beatmet, ich hörte Monitore bei der Arbeit, aber ich sah sie nicht, nicht mal ihre Füße, mein Blick wurde von einem weißen Vorhang verstellt.

Ich durfte mein rechtes Bein nicht bewegen. Der Kardiologe war durch die Leiste bis zum Herzen vorgedrungen. 24 Stunden still liegen, sonst kann es passieren, dass Sie innerlich verbluten.

“Da sind Sie dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen”, meinte eine Krankenschwester, was ich zunächst als Floskel abtat, mit der man neue Herzinfarktpatienten empfängt. Erst als der Oberarzt erschien, in Begleitung weiterer Ärzte und Ärztinnen, und mit ernstem, aber nicht hoffnungslosen Blick von einem schweren Herzinfarkt sprach, den ich nur deshalb überlebt hätte, weil ich so rasch auf seinem OP-Tisch gelandet war, (“Ein Zugang war schon komplett zu, der Herzmuskel wurde nicht mehr mit Blut versorgt”), erst da wurde mir bewusst, wie knapp das alles war. Mann, da hab ich die 80er überlebt, die 90er, sogar die dumm-dreisten 00er haben mich nicht umgebracht, und jetzt das.

Und hätte mich der Herrgott an diesem Vormittag nach dem Frühstück nicht in die Innenstadt gelotst, um Geld abzuheben, sondern, wie am Tag zuvor, mit dem Hund in die Wupperberge, abseits der Fußwege und wie immer ohne Handy, dann wäre meine Überlegung, wie man eine Herzinfarkt-Geschichte beginnt, obsolet gewesen.

Hoffnungslos veraltet.

Und was wäre mein vorletzter, je geschriebener Satz gewesen? Ein kleiner Satz von ihr im Notizbuch, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge.

Und der letzte Satz:  Na. Ich weiss auch nicht.

Perfekt, eigentlich.

MOUNTAINS OF DISBELIEF. Thomas Hartmann in der Weißfrauen Diakoniekirche in Frankfurt a.M.

Die Ausstellung ist eröffnet. „Das ist ein Ding…“, „Und wie…“, „Wie lange hat das gedauert?“, „Hast du gesehen?“ Allseits Staunen und Raunen. Auch der Vater des Künstlers war stolz, wie er dem meinem sagte. Schneck08 (Sebastian Rogler) war da, was mich besonders gefreut hat. Unsere Freunde Guido Rohm und Seraphe waren mit Tochter Sternchen aus Fulda angereist. Mein Hals war immer noch rauh und die Stimme reichte kaum für die ganze Rede (hätte ich mich besser kürzer gefasst). Apfelwein und – saft floss, man stand in Gruppen und sprach (über das Kunstwerk, tatsächlich, was bei Ausstellungseröffnungen nicht üblich ist). Morel klopfte BenHuRum auf die Schulter: „Das ist dein Meisterwerk.“ So ist es! Gehen Sie hin, schauen Sie selbst!

Mountains of Disbelief

 
Ich interviewte den Künstler nicht, wie mir Phyllis Kiehl, die leider nicht kommen konnte, geraten hatte. Großmütig verzichtete ich auf unangenehme Fragen wie: „Was willst du ausdrücken mit dieser architektur-parodistischen Installation?“ oder „Welche erotische Beziehung hast du zum Material Verpackungspappe?“. Selbst Suggestivfragen stellte ich nicht, bei denen er bloß sagen hätte müssen: „Ja, kann man so sehen.“ Wie zum Beispiel: „Ist es nicht so, dass der Kontrast von organischem Wachstum und anorganischer Ordnungsstruktur dein Gesamtwerk prägt?“ Ich ordnete das Werk auch nicht kunsthistorisch ein, weder soziokulturell („Wegwerfgeschirr und Hochkultur“), noch hermeneutisch („Wunden zeigen. Wunder glauben. “) noch dekonstruktivistisch („Die Abwesenheit von Laokoons Waschbrettbauch“).
Stattdessen sprach ich über den „ungläubigen Thomas“ (Auszug):

„Das Erste, woran ich spontan dachte, als ich die Einladungskarte las und sah: MOUNTAINS OF DISBELIEF und ZEIGE DEINE WUNDE, war der Apostel Thomas, der auch „der Ungläubige“ genannt wird. Thomas, der einer der zwölf Jünger Jesu war, verlangte, die Wunde des Herrn mit eigenen Augen zu sehen, um zu glauben. Es genügte ihm nicht, dass der abstrakte Gott der Schrift in der Gestalt Jesu Fleisch geworden war, Thomas forderte nun sogar: ZEIGE DEINE WUNDE.

Guido Rohm, Melusine Barby (aka J.S. Piveckova), Seraphe,
staunend

 
Das Bilderverbot des jüdischen Glaubens hatte seinen Sinn darin, mit der abstrahierenden Definitionsmacht des Wortes sich der Magie der gegenständlichen Bildnisse zu entziehen. Geglaubt werden sollte fortan gerade, was nicht zu sehen und anzufassen war. Diese Abstraktionsleistung verweigert der „ungläubige Thomas“. Thomas erscheint in seiner Gier nach Anschaulichkeit als ein schwerfälliger Schüler, der halt ein bisschen länger braucht, um das Ganze zu begreifen. Am Ende genügt es ihm nicht einmal, die Wunde bloß zu sehen. Ich glaube nur, wenn ich meine Hand in seine Seite lege., sagt Thomas im Johannes-Evangelium. Jetzt wird deutlich, wie gewaltsam sein Verlangen nach Beweisen ist: LASS MICH IN DEINER WUNDE BOHREN.

Mountains of Disbelief (Detail)

 
Während die Gläubigen Thomas´ Unwillen, irgendetwas zu glauben, was nicht zu sehen und nicht anzufassen ist, beklagen mögen, können die Zweifler in ihm einen frühen Schutzpatron erkennen. Das ist ein Mann, der sich kein X für ein U vormachen und sich nicht mit schönen Worten abspeisen lässt. Thomas kann damit gleichsam als ein Vorläufer unserer modernen westlichen Weltsicht gelten, die eine Welt des Zeigens und Gezeigt-Werdens ist, der Entblößung und Aufdeckung, aber eben auch eine Welt des Misstrauens – gegenüber dem Wort und der Schrift, jedoch ebenso des Misstrauens gegenüber den Bildern, die lügen können und mit deren Hilfe dauernd gelogen wird. Es steckt, das Verlangen des ungläubigen Thomas zeigt es, im Bilderwollen genauso viel Gewalt wie im ursprünglichen Bilderverbot.

Mountains of Disbelief (Raucherecke)

 
In der Welt der Bilder kann nur Sinn machen, was vorzeigbar und festzuhalten ist. Auf diese Weise ist das Bild stets auch ein Ausschluss, eine Löschung all dessen, was nicht gezeigt wird. Wie in der Wörterwelt das Konkrete der Abstraktion geopfert wird, so wird in der Bilderwelt ausgeschlossen, was als nicht bildwürdig gilt. Die Installation MOUNTAINS OF DISBELIEF von Thomas Hartmann zeigt Ihnen vieles, aber sie trifft offenbar diese Unterscheidung zwischen bildwürdig und bildunwürdig nicht. Vor meinen Augen entsteht hier – jenseits des Logos – ein faszinierender und lustvoller Einspruch gegen die Herrschaft der erstarrten und erstarrenden Sinn-Bilder. Es ist nicht wahllos, was und wie Sie hier etwas zu sehen bekommen, aber es ist auch nicht zwingend in jenem zwanghaften Sinn, der behauptet, etwas könne nur so und nicht anders sinnfällig und bedeutsam werden. Sie können umher gehen in dieser Kirche und zeigen: auf bunte Bälle und Trinkhalme, auf Sumo-Ringer-Hosen und Joseph-Silhouetten, auf Teppichrohre und Kruzifixe, auf Grass und Ente, Pfeife und Schlange. Sie können einen eingehegten Altar umkreisen oder eine Raucherecke finden. Aber wann immer Sie versuchen werden, sich ein Bild zu machen, werden Sie vor diesen Gebilden feststellen, dass der Bilderrahmen überschnitten wird, dass es aus ihm herausquillt und in ihn hineinwuchert. Immer wieder kann man hindurch und hinaus schauen. Sie können sinnstiftende Bezüge herstellen zwischen Formen und Farben, Zitaten und Metaphern und doch wird sich wohl kaum alles schlüssig zu einem einzigen Gesamtbild fügen. Das Gebilde, das hier entstand, ist stabil und fragil zugleich: Es hält, aber es wird nicht bleiben. Die Bildwerke aus Pappe und Papier, Zeitungsausschnitten, Spielzeug und Müll, die hier gezeigt werden, können woanders ganz anders zusammen gesetzt sein. Sie stehen nicht für sich allein, sondern sind in Beziehungen und Abhängigkeiten gebracht, die jedoch nur befristet gelten. Metamorphosen deuten sich an; alles kann zu anderer Zeit, an anderem Ort sich anders fügen. Vielleicht werden Sie stehen bleiben und staunend schauen, während andere durch die Pappkonstrukte hindurch auf Sie schauen, wie Sie zeigen, was Sie gerade sehen. Die Gesetze des Bildes: Kohärenz, Konzentration, Kontemplation sind hier außer Kraft gesetzt. Stattdessen finden Sie Übersprünge und Überfülle, stoßen Sie auf Weiterungen und Wucherungen.

Mountains of Disbelief (Laokoon-Gruppe)

 
Es behält hier keiner recht oder wird ins Unrecht gesetzt. Weder der Skeptiker noch der Sinnstifter. Sie können beide Positionen einnehmen. Sie können mit ihnen spielen. Sie kamen her, um Berge des Unglaubens zu sehen. MOUNTAINS OF DISBELIEF. Sie werden gesehen inmitten von Bergen des Unglaubens. Wo ein Berg ist, ist auch ein Weg durch den Berg. Aus der Wunde der Stadt, der sich dieser Kirchenbau Werner Neumanns aus den fünfziger Jahren verdankt, weil die alte Weißfrauenkirche in der Altstadt 1944 bei einem Bombenangriff ausbrannte, ist ein Raum geworden, fest und farbig, in dem sich zu Zeigendes verbirgt und Unzeigbares sichtbar werden kann. Die Stadt, deren Wunde von damals nicht mehr offen liegt, wird aber auch weiter verwundet. Um die Ecke wurden Zeichen gesetzt, indem man in Zelten vor Bankentürmen kampierte. Nebenan finden Wohnungslose dieser Stadt Hilfe. Sie können manche Wunden sehen und auf sie zeigen. Sie können auch in den Wunden bohren.

Thomas Hartmann (BenHuRum)

 
Aber vor allem können Sie hier in und vor Thomas Hartmanns Installation erleben, wie viel Lust und Energie, Farbe und Formenfülle sich aus Verwundung und Verwunderung, Wohlstandsmüll und Verpackungsmaterial, Überfluss und Schein, Kitsch und Kunstwollen schöpfen lassen. Alles hat einen Wert, jedoch nicht den, der sich auf ein Preisschild schreiben lässt. Statt der Ökonomie des Mangels zu huldigen und sich dem Spar-Zwang zu beugen, wird hier in barocker Manier verschwenderisch in die Vollen gegriffen. Sie können das genießen und dabei etwas verstehen, was in Worten nicht ausgedrückt werden kann. Und deshalb müssen Sie tatsächlich hier sein und sehen; nicht um zu sehen, was sie nicht glauben können, sondern um zu sehen, was nicht zu beschreiben ist. VERSORGE DEINE WUNDE. VERSORGE DICH.
Schweifen Sie umher, entdecken Sie die Gastbeiträge von Gerald Domenig, fabelhafte Tiere und transsexuelle Skulpturen, die Eierkartons und das kubistische Bildnis und vieles mehr. Die Möglichkeiten scheinen unendlich, Bezüge und Deutungen herzustellen. Seien Sie nicht geizig!“
***
Schauen Sie selbst, wenn Sie in Frankfurt am Main sind. Bis zum 28. Juni in der Weißfrauen Diakoniekirche Gutleutstraße/Ecke Weserstraße. (Nur 5 Minuten zu Fuß vom Frankfurter Hauptbahnhof).
Fotos: Morel

Die Dinge waren Honig im Sommer 88

Die Tussi blieb unbeeindruckt. Beim Ausfüllen des Personalbogens hatte ich wahrheitsgemäß angegeben, bereits seit über drei Jahren arbeitslos zu sein, doch das kümmerte sie nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich weder den Führerschein besaß noch Spanisch sprach oder CNC-Fräsen beherrschte, TÜV-Zertifiziert. Erst als sie die Rubrik Stundenlohnvorstellung erreichte, blickte sie hoch.

“Sechzehn Mark..? Nee, junger Mann, das können wir gleich vergessen. Wir hatten an elf gedacht. Elf Mark, nicht sechzehn.”

Ich konnte von meinem Platz aus sehen, wie sie auf dem Personalbogen in Druckbuchstaben ZU HOHE LOHNFORDERUNG eintrug. Verdammt, musste das sein? Druckbuchstaben machten Lärm, Druckbuchstaben fielen auf. Druckbuchstaben waren Gorillas, die sich auf der Brust trommelten: HIER, ICH!! UUH! UUH!
“Moment mal.. Das geht nicht”, sagte ich. “Wenn Sie das so schreiben, kriege ich Ärger mit dem Arbeitsamt.”
“Ärger? Wieso? Wenn Sie doch auf Ihrer letzten Stelle wesentlich mehr verdient haben, ist das doch kein Problem. Dann kann Sie das Amt nicht zwingen, eine Arbeit aufzunehmen.”

“Na schon..”, setzte ich an.

Sie wartete.

“Aber..?”

“.. bei meinem letzten Job als Kommissionierer hab ich elf fünfundsiebzig gekriegt.”

“Oh. Ja. Das sind gerade mal fünfundsiebzig Pfennig mehr. Warum fordern Sie denn plötzlich so viel?”

“Weil man mit dem Geld nicht hinkommt. Könnten Sie nicht.. sagen wir, einen anderen Grund angeben, warum Sie mich nicht einstellen?”

Sie rückte die Brille zurecht.

“Was denn für einen?”

Eigentlich sah sie ganz nett aus. Als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Verwuseltes Haar, kleine chinesische Teezähnchen. Ich meine, ist doch schöner als perfekt. Eine Personalchefin muss kein Top-Mannequin sein. Dazu dieses neugierige kleine Stupsnäschen. Wie süß. Und das bißchen Brille.

“Vielleicht.. dass ich untauglich wäre für den Job?”

“Das ist einfache Maschinenarbeit. Das kann jeder.” Sie gackerte. “Sogar Sie.”

“Hm ja.. Oder Sie hätten sich für einen anderen Bewerber entschieden. Es haben sich doch mehrere Leute vorgestellt, oder nicht.”

“Damit wir uns recht verstehen, junger Mann.” Ihre Stimme bekam einen harschen Klang, so als hätte sie plötzlich den Kehlkopf durchgedrückt und stünde nun kerzengerade vor mir. “Wir suchen Mitarbeiter für mehrere Maschinen, und soviel Leute hat uns das Arbeitsamt gar nicht hergeschickt. Und den meisten, die erschienen sind, ist der Stundenlohn zu gering.”

Mir ging es nicht um den Stundenlohn. Ich hatte einfach keine Zeit für den Job, ich hatte im Hotel genug zu tun. Nachmittags war ich Kofferträger und verteilte das Gepäck der ankommenden Reisegruppen, nachts arbeitete ich an der Rezeption und beschiss den Chef, wenn ich ein Zimmer schwarz vermietete. Ich klüngelte an allen Fronten. Die Dinge liefen gut in diesem Sommer. Ich war seit anderthalb Jahren mit der Gräfin zusammen, die Sonne war draussen, ich hatte Bargeld satt.

Nur wenn ich die Zeitung aufschlug, wurde mir zunehmend mulmig. Konjunkturaufschwung, las ich. Jobs, Jobs, Jobs. Was bedeutete, dass möglicherweise selbst für Loser wie mich ein Pöstchen heraussprang, ein sozialversicherungspflichtiges, versteht sich. Aber davon hatte niemand etwas. Ich würde alles nur kaputtmachen mit meinen zwei linken Händen und gefühlsduseligen Kopfhälften. Nein. Es konnte ruhig alles so bleiben, wie es war.

Pünktlich zum Monatsende überwies Nürnberg die Arbeitslosenhilfe auf mein Konto, nicht sehr viel, doch es reichte für Miete, Strom und eine Tageszeitung. Für den Rest, fürs High Life, wie meine Eltern das nannten, jobbte ich im Turmhotel. Bezahlt wurde cash auf die Hand, in Dollar das Koffertragen, in D-Mark die Nacht. Ich fühlte mich wie Onkel Dagobert im Geldspeicher. Hier ein Zwanni, da zehn abgegriffene Dollarnoten, alles voll.

“Things are really honey”, sang ich vor mich hin, eine Zeile aus einem Popsong. Ich hatte vergessen, welcher Song. War ja auch egal. Die Dinge waren Honig, in jenem Sommer 88. Bis eben zu diesem Tag, diesem Vorstellungstermin in einem alten Wuppertaler Gewerbegebiet, bei Frau Patzke.

Ich war Mitte zwanzig und wusste immer noch nicht, was ich werden wollte, wenn ich mal groß bin. Schon Jahre zuvor, als Pepe im Knast saß und wir uns lange Briefe schrieben, kam Pepe auf den Punkt. Er beschwerte sich darüber, dass dieser Staat sich anmaßte, darüber zu entscheiden, welche Drogen wir Bürger nehmen dürften und welche nicht. Die sollen uns in Ruhe lassen, schrieb Pepe zornig, wir tun diesem Land doch nichts. Wir gehen unserer Arbeit nach und zahlen Steuern, dann können wir auch abends was kiffen oder ein Näschen Koks ziehen. Er zählte einige Kumpel auf, die gerne ihrer Arbeit nachgingen und Steuern zahlten. Zuletzt kam er bei mir an, und der Faden riss. Bei mir wollte ihm partout keine bezahlte Beschäftigung einfallen, die zu mir passte.

Du bist ein Outlaw, schrieb er. Schreib einen Sommerhit, dann hast du ausgesorgt.

Ich zog meinen Tabak aus der Gesäßtasche und begann mir eine zu friemeln. Live. Live kam immer gut. Tabak krümelte auf die weiße Resopalplatte des Schreibtischs. Das Gespräch war am Tiefpunkt angekommen.

“Frau..”, ich blickte auf ihr Namenschildchen, “.. Patzke, ich muss jedes Jobangebot annehmen. Ich kann gar nicht ablehnen. Wenn Sie also unbedingt wollen, dass ich hier anfange, dann muss ich das tun, wohl oder übel. Sonst sperrt mir das Arbeitsamt die Zahlung.”

Die Leiterin des Personalbüros starrte auf meine Finger, die eine Zigarette rollten. Ihr Blick verriet erst Ungläubigkeit, dann Hass. Da war nichts mehr mit Stupsgesicht und Teezähnchen. Da war kaum noch Nase. Nur noch Brille, Kassengestell. Ich war zu weit gegangen.

“Also, das müssen Sie schon selbst entscheiden”, giftete sie. “Wenn Sie mit elf Mark Stundenlohn bei einer Vierzig-Stunden-Woche zufrieden sind, können Sie Montagfrüh anfangen, Punkt sieben Uhr dreißig. Wenn nicht, dann nicht.”

Das Gespräch neigte sich dem Ende zu, mit riesigen Schritten. Es war schon draussen auf dem Gang. Ich hörte es trappeln, bis hierhin. Ich saß in der Falle. Das war exakt die Situation, die man bei einem Vorstellungsgespräch unbedingt vermeiden sollte. Wenn nichts mehr vor und zurück ging und man selbst der Gelackmeierte in der ganzen Geschichte war.

“Elf Mark sind zu wenig”, sagte ich und steckte die fertiggedrehte Kippe ein. “Da bleiben doch gerade mal tausend Mark im Monat.”

Sie zog eine veraltete Rechenmaschine heran und tippte mit flinken Fingern Zahlen ein.

“.. genau elfhundertneunzig netto, Steuerklasse eins.”

Ich griff zur finalen Maßnahme.

“Sie hätten doch gar nichts davon, wenn ich hier Montag anfange und nach, sagen wir, zwei, drei Wochen wieder in den Sack haue.”

“Da haben Sie wohl recht”, sagte sie und erhob sich rasch. “Davon hätte ich nur jede Menge Papierkram.”

Sie ging zur Tür und öffnete sie, flankiert von einer kühlen Kopfbewegung: UND JETZT RAUS HIER, FAULER POLAKKE!

Ich schlich davon, wie ein begossener Pole.

*

..

“Das Wort Land finde ich echt schön. Ein schönes Wort. Land in Sicht!”

..

aus

Von Philosophen und echter Philosophie