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erotische gedichte

e. e. cummings: »erotische gedichte«

Liebe, Humor, Frau, Mann. Kommt nun noch die Freude am sprachlichen Experiment dazu, ist man bei den erotischen Gedichten des amerikanischen Lyrikers und Malers E.E. Cummings (1894–1962) angelangt. Cummings liebt das Physische in allem, was er tut: Er liebt die Buchstaben, die Wörter. Und er liebt die Frauen, die Erotik, den Sex. So wie er immer wieder die sinnliche Einheit zweier Liebender und ihrer Körper feiert, so spielt er auch mit dem Körper der gedruckten Sprache: Er trennt und vereint die sprachlichen Körperteile, um sie zu neuen und überraschend lustvollen Bildern im Kopf der Leser werden zu lassen. Seine Gedichte bewegen sich dabei zwischen romantisch und obszön, zärtlich und derb, verspielt und frivol. Seine liebevollen erotischen Stellungnahmen entzücken und provozieren.
Dieser Band vereint zum ersten Mal ausgewählte erotische Gedichte aus dem umfangreichen lyrischen Werk von E.E. Cummings.

••• Gestern bekam ich eines der ersten Exemplare von cummings’ »erotischen gedichten« in die Hand. Der zweisprachige Band erscheint am kommenden Donnerstag in der textura-Reihe von C.H.Beck. Die sehr gelungene Neuübertragung der Gedichtauswahl – ursprünglich in dieser Zusammenstellung bei W. W. Norton & Company erschienen (siehe auch »» hier) – hat Lars Vollert besorgt. Mich freut besonders, dass ich ein Nachwort zu diesem Band beisteuern durfte und sich in diesem Nachwort auch eine Zeichnung von Kerstin Klein findet, die sie mir vor einigen Jahren verehrt hat.

Dass cummings immer eine lohnende Lektüre ist, muss ich nicht eigens betonen. Dieses Buch, liebevoll gesetzt und schön verpackt, sollte man gleich zweifach kaufen. Für einen selbst natürlich; und dann eignet es sich sicher auch besonders gut als Geschenk für jemandem, dem man Zärtliches sagen möchte…

e. e. cummings: »erotische gedichte«
Mit einem Nachwort von mir und einer Zeichnung von Kerstin Klein

Or-bit-or

Der internationale Romanistentag hat in den vergangenen Tagen in Berlin stattgefunden. Zu Beginn meines Urlaubssemesters habe ich mir dennoch einige Vorträge angehört, vor allem im Bereich der Rumänistik. Die Rumänisten sind eine überschaubare Sektion innerhalb der Romania. Ich kenne da einige Leute. Sieben, um genau zu sein. Also alle! Kontakte sind wichtig, Bekanntschaften und Freundschaften nicht minder.

Ich interessiere mich vor allem für die Orbitor-Trilogie von Mircea Cartarescu. Da ist derzeit nur der erste Teil übersetzt als „Die Wissenden“. Im Original heißen die drei Teile “Orbitor. Aripa stanga” (Blendend, Der linke Flügel); “Orbitor. Corpul” (Blendend, Der Körper); “Orbitor. Aripa dreapta” (Blendend, Der rechte Flügel). Cartarescu hat auf die Frage, ob er seinen Roman in wenigen Worten zusammenfassen könnte, die folgende Antwort gegeben: „Ich habe 14 Jahre und 1500 Seiten gebraucht, um herauszufinden, worum es in dem Roman geht. Jetzt kann ich es sagen, jedoch nicht in wenigen Worten, sondern in genauso vielen, wie ich im Buch verwendet habe.“, hier. Irgendwo in seinem Jurnal heißt es einmal, glaube ich, er wolle „mit perversem Verstand, ein unlesbares Buch schreiben“. Vielleicht hat das auch jemand über ihn gesagt. Es ist ein unlesbares Buch. Es ist eine erhebliche Herausforderung für jeden Literaturwissenschaftler. Man meint an vielen Stellen es zu begreifen. Aber man begreift es nicht.

Allein der Titel ist von einiger Komplexität. Alle drei Teile heißen „Orbitor“. Die korrekte Übersetzung ist „Blendend“. In der doppelten Bedeutung von Sehen, nämlich ein Sehen, das mehr ist als ein Sehen. Ein Über-Sehen. Ein so deutliches Sehen, dass es zu viel ist und der geblendete Mensch eben nichts mehr sieht. „Orbire“ bedeutet Erblinden. Dann steckt in dem Wort natürlich der Orbit, die Umlaufbahn, deren Rundung beim Sprechen sowohl im Eröffnungslaut – Or – als auch im identischen Verschlusslaut – or – mit den Lippen bildnerisch nachgezeichnet wird. Orbitor hat aber noch andere Anklänge und kann auch „Abstumpfung“ oder „Banalisierung“ bedeuten. Diesem Bild einer Umlaufbahn, der Wiederkehr der Planten und Ereignisse, allerdings auch der stumpfen Wiederholung, wird ein zweites Bild mitgegeben, das in allen drei Teilen des Romans wiederkehrende (!) Bild des Schmetterlings mit seinem Körper und seinen beiden Flügeln: hier klingen die Verwandlung der Raupe an, die Schönheit des Tieres, das Fliegen, die Ziellosigkeit, die geometrische Zeichnung der Flügel und intellektuelle Mitbedeutungen wie das Assoziationsvermögen beispielsweise im Rohschach-Test und die Unterteilung des Gehirns in zwei einander ergänzende Hälften. Der Schmetterling ist in der Trilogie, wenn man das sagen kann, das Bild für eine ästhetische Erlösung. All das ließe sich noch sehr viel ausführlicher entfalten.

Prof. Michelé Mattusch hat in ihrem Vortrag einen Gedanken paraphrasiert, der in dem Roman thematisiert wird: die Struktur eines Termitenhügels ist durch den Bau der Kiefer der Termiten vorgeben. Das finde ich ein sehr schönes Bild. Die Welt der Termiten sieht so aus wie sie aussieht, weil die Tiere sie so begreifen können. Diese Welt ist eine ihren Organen und ihrem Wahrnehmungsvermögen adäquate Welt. In einer anderen könnten sie gar nicht leben. Sie gehen nicht ins Kino, weil sie keins haben und sie haben keins, weil sie das Organ dafür nicht haben: das Gehirn, die Augen oder einfach die cineastische Leidenschaft.

Ich habe in den vergangenen Tagen zwei Zeitungsartikel gelesen, die mich in Erstaunen versetzt und meinen Widerspruch provoziert haben. Beide (eins, zwei) drehen sich um dasselbe Thema, darum, dass Physiker offenbar, oder möglicherweise, Teilchen entdeckt haben, die sich schneller als das Licht bewegen. Das würde Einsteins Relativitätstheorie und dessen zentrale Konstante, nichts ist schneller als das Licht, zusammenbrechen lassen. Vielleicht haben diese Physiker das nur deswegen entdeckt, weil die Drittmittel ja irgendwoher kommen müssen und da macht sich der Zusammenbruch des Universums oder seiner stabilisierenden Theorie ganz gut. Aber irgendwo und irgendwann geht ja immer gerade die Welt unter, zum Beispiel am 21. 12. 2012. Für irgendwas ist das immer gut, in diesem einen Fall für die Grundstückspreise in Bugarach.

Wie der Bau des Termitenhügels im Bau der Termitenkiefer bereits vorgegeben ist, so ist der Bau des Universums bereits durch den Bau des menschlichen Gehirns vorgegeben. Die Welt, die wir verstehen ist die Welt, die wir verstehen können. Keine andere. Das heißt aber nicht, dass es da nicht eine andere gibt. Ich empfinde es als lächerlich und anmaßend, zu glauben, das Universum sei wirklich so aufgebaut wie die physikalischen Beweise es zeigen. Das Universum ist vielmehr so, wie die Beweise es beweisen. Sie beweisen nichts anderes, als wie wir es uns vorstellen können. Das ist natürlich letztlich mit jedem Beweis so und auf diese Weise lässt sich kaum ein Axiom wie der Satz des Pythagoras relativieren. Wir müssen davon ausgehen, dass eins und eins immer zwei ist. Egal unter welchen Umständen (obwohl ich meine, mich erinnern zu können, dass es bei den irrationalen Zahlen anders ist. Aber für mich sind alle Zahlen irrational. Was das Leben nicht einfacher macht!).

Dennoch empfinde ich das Ganze als eine gigantische Bauernfängerei. Dolle Sache da draußen: Schwarze Löcher und Antimaterie. Lichtgeschwindigkeit, an deren Grenzen wir wieder jünger werden. Ursache und Wirkung geschehen in unterschiedlicher Reihenfolge, Reisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Ziemlich großes Spielzimmer, was sich die Physiker da ausgesucht haben. Das derzeit größte. Weltweit. Und darüber hinaus.

Man macht sich im CERN in Genf und anderen Orten irgendwo in Amerika, ich glaube am MIT, auf die Suche nach den Anfängen des Universums. Das ist die Grenze zur Fiktionalität. Das ist die Grenze zwischen Science Fiktion und Wirklichkeit. Das sind die Erzählungen vom Anfang der Welt. Man macht sich anhand von Zahlen ein Bild. Man sucht ja letztlich keine Zahlen. Man sucht Bilder. Man sucht Worte. Weil man sich anhand von Bildern und Worten eine Geschichte erzählen kann. Am Ende ist alles so wie wir es uns vorstellen können. Oder wir stellen uns es so vor wie es ist. Das macht keinen Unterschied mehr.

Brigitte Heymann, eigentlich Romanistin, hat in ihrem Vortrag, in Bezug auf den Blutkreislauf und viele andere Ereignisse, gesagt: „Wir können das nicht sehen. Wir können das nicht erfahren. Aber wir können es schreiben.“ Mircea Cartarescu sagte einmal in übertragenem Sinne in „Orbitor“: der Weltraum braucht kein menschliches Auge. Ganz meiner Meinung. Man schießt also mit Lichtgeschwindigkeit winzige Teilchen aufeinander und schaut sich dann die Schäden an. Jeder literarische Schuss in den Ofen ist interessanter. Und deutlich günstiger.

Bei Kommentaren muss man noch immer das captcha mit beiden Worten überwinden.

Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.

Tod und Liebe und Verdacht

„Die Unbefleckte Empfängnis“ von Gaétan Soucy

Es gibt die guten und die schlechten Romane. Es gibt die Romane mit den hellen und die mit den dunklen Stoffen. Es gibt die runden und die kantigen Romane. Es gibt die Romane, die Fragen stellen und die, die Antworten geben. Es gibt die sich aufblähenden und die in sich zusammenfallenden Romane. Es gibt die, die vorne anfangen und hinten aufhören und die, die es umgekehrt machen. Es gibt die schneller und die langsamer werdenden, es gibt die verrätselnden, die versprechenden und die halluzinatorischen Romane, die erratischen und die erotischen. Es gibt die aufklärenden, die erklärenden und die verklärenden. Es gibt die nüchternen und die trunkenen. Es gibt die auffälligen, die gefälligen und die gefühligen. Es gibt die rapportierenden, die reklamierenden, die revoltierenden und die rotierenden. Es gibt die launigen, die launischen, die lebhaften, die lahmen, die libidinösen, die lüsternen, die liebevollen, die larmoyanten, die lyrischen, die luziden, die liturgischen, die luziferischen, die langweiligen, die lachhaften, die lächerlichen, die lauten, die leisen, die listigen und die lustigen Romane. Und genau so einer ist das.

„Die Unbefleckte Empfängnis“ ist der Debütroman des Frankokanadiers Gaétan Soucy. Seine beiden nachfolgenden Romane sind diesem in der Übersetzung zuvorgekommen, zusammen bilden sie die „Trilogie der Vergebung“, bestehend aus „Das Mädchen, das die Streichhölzer zu sehr liebte“ (La petite fille qui aimait trop les allumettes), „Die Vergebung“ (L’acquittement) und eben „Die Unbefleckte Empfängnis“ (L’Immaculée Conception). Gaétan Soucy steht sowohl dem Surrealismus als auch dem Symbolismus nahe. Die wirklichkeitsadäquate, rein beschreibende und realistische Prosa ist seine Sache nicht. Der Sinn der Ereignisse und Handlungen ergibt sich selten nur aus ihrer Nähe zur Wirklichkeit. Ereignisse scheinen oft keine Bedeutung und keinen Sinn zu haben. Sie gewinnen diesen Sinn erst, indem sie auf andere Ereignisse verweisen, die, für sich betrachtet, auch nicht sinnvoll sind.

In diesem Verständnis von der Welt, in so einer Netzstruktur gibt es kein natürliches Zentrum. Das Zentrum ist dort, wo sich etwas im Netz möglicher Bedeutungen verfängt. Man könnte überall anfangen diesen Roman darzustellen, in der überflüssigen und grotesken Szene, da die kleine stumme Sarah ihren Beschützer Remouald in eine Metzgerei zieht, die in Käfigen lebenden Tiere im Hinterhof durcheinander wirbelt, den Hühnern ins Hinterteil tritt und dann mit einem Kalbsschnitzel einen Schinken verprügelt. Das sind wenige Seiten, kaum der Rede wert, mit oder ohne Schnitzel, die Entwicklung nimmt ihren Verlauf. Das siebenjährige Mädchen ist keine Hauptfigur, aber sie präsentiert ein wichtiges Motiv: die Kindheit und vor allem die Liebe zu Kindern.

Remouald Tremblay ist ein etwa dreißigjähriger, zu groß geratener Volltrottel mit dem Lächeln eines Esels. Er war einst ein hochintelligentes Kind, aus dem von einem auf den anderen Moment ein Dummkopf geworden ist. Er hat mitunter Zusammenbrüche, die wie epileptische Anfälle aussehen, tatsächlich aber Erinnerungen an seine Kindheit sind. Er pflegt seinen alten Vater Séraphon Tremblay, der im Rollstuhl sitzt und seine Zeit damit verbringt, den Sohn zu tyrannisieren.

„Séraphon Tremblay schämte sich wenig für seine körperlichen Unzulänglichkeiten, die er durchaus für sich zu nutzen wusste. Er war einer jener Greise, die es sozusagen von Geburt an sind, die ihr Leben lang auf das richtige Alter warten und erst am Ende des Weges ganz zu sich selbst finden, dann aber den machtvollen Glanz aller Dinge erlangen, die ihr volles Wesen entfaltet haben. Sein Körper verlangte so gut wie nichts mehr, was ihm sehr entgegenkam, die Sorge war er los, und versetzte ihn obendrein in die glückliche Lage, seinen Sohn Remouald unter der Last seiner Schwäche erdrücken zu können.“

Tagsüber arbeitet Remouald in einer Bank. Der Bankbesitzer, Monsieur Judith, bittet ihn eines Morgens auf seine Nichte Sarah aufzupassen. Der Trottel geht also mit dem Kind spazieren, er geht mit ihr ins Kino, er kauft ihr ein Lotterielos und merkt bald, dass er sie gern hat. Am Abend des zweiten Tages erhält Judith die Nachricht, dass die Mutter des Mädchens im Sterben liege und ihre Tochter noch einmal sehen wolle. Da ihn selbst ein wichtiger Termin von der Reise abhält, schickt er Remouald mit der kleinen Sarah los. Der nimmt noch seinen gelähmten Vater mit. In einer kalten Winternacht steigen sie mitten auf der Strecke aus einem Güterzug. Séraphon wird auf einen Schlitten umgeladen und festgebunden. Sie bekommen eine Öllampe und Streichhölzer. Dann treten sie die Wanderung durch den Schnee ins Sanatorium Saint-Aldor-de-la-Crucifixion an, wo angeblich die Mutter Sarahs liegt. Die drei kommen allerdings nie an. Sarah erhält die Streichhölzer, sie gibt bisweilen noch ein Leuchten von sich, dann verschwindet sie, die Öllampe leckt, fängt Feuer und Remouald und Séraphon verbrennen bis zur Unkenntlichkeit.

Auch damit könnte man im Netz der Bedeutungen beginnen, denn auch dies ist ein wiederkehrendes Motiv: die kleinen und die großen Brände. Als viele Jahre zuvor Remoualds Mutter stirbt, heißt es von Célia „Sie starb ohne Worte, nur ein Seufzer im Schlaf, der nicht einmal genügt hätte, um ein Streichholz auszublasen.“ Streichhölzer die nicht ausgeblasen werden, können größtes Unheil anrichten. Séraphon war einmal der Besitzer einer Holzhandlung, die durch einen Brand vernichtet wurde. Die Umstände dieses Brandes, so kamen damals die Behörden überein, sollten der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Angeblich steckte Remoualds Vater Joachim dahinter. Remouald hieß früher Bilboquain mit Nachnamen und ist lediglich Séraphons Stiefsohn. Möglicherweise war der Brandstifter auch Wilson, der als Aushilfe in der Holzhandlung arbeitete und eine Neigung zu hübschen Jungs hatte. Wilson liebte Remouald und war tödlich eifersüchtig auf dessen Schwester Joceline. Wilson aß nur Tiere, die er selbst getötet hatte. Bevor die Holzhandlung brannte, servierte er dem geliebten Kind ein grausiges Mal. Seit jenem Tag war seine Schwester Joceline verschwunden. Remouald verlor den Verstand, Wilson erhängte sich, Célia wurde verrückt, Joachim starb bei dem Brand. Daraufhin kam Remouald ins Sanatorium: Saint-Aldor-de-la-Crucifixion. Vollständig verwandelt wurde er drei Jahre später entlassen. Aus einem hübschen kleinen Jungen ist ein metergroßes Ungetüm geworden, aus einem überaus intelligenten Jungen ein Trottel.

Das Zusammenleben mit der Mutter und dem Stiefvater wird zum Martyrium. Die Mutter zieht sich immer mehr in ihre psychischen, sein Stiefvater Séraphon in seine physischen Gebrechen zurück. Remouald erträgt all das als eine Art Sühne, als Buße, weil er sich nicht erinnern kann, außer in den epileptischen Anfällen. Der Tod durchs Feuer ist die Erlösung aus seiner Qual.

„Das Grauen, in dem er zwanzig Jahre lang gefangen gewesen war, ließ ihn nun frei, und zum ersten Mal konnte er atmen, ohne zu spüren, wie eine böse Hand – seine eigene – ihm das Herz zusammendrückte. Die heilige Jungfrau wachte über den Brand, richtete die Flammen immer wieder mit sanften Griffen wie einen Blumenstrauß. Sein Vater Joachim pflegte ihm jeden Abend, wenn Remouald von der Schule kam, die Hände zu waschen, und nach dem Abendessen tanzten sie Gigue, und seine Mutter saß lachend im Schaukelstuhl am Ofen und klatschte den Takt.
Die Flammen glitten über Remoualds Haut und streichelten ihn. Er öffnete halb die Augen, schloss sie wieder, öffnete sie erneut, wie ein glückliches Kind, das in den Armen eines Menschen einschläft, den es liebt. Er fühlte sich zwischen zwei Welten: einer Welt, die es schon nicht mehr gab, und einer Welt, die es noch nicht gab und die es vielleicht nie geben würde. Aber welche Gegenwart? Welche Zukunft? Diese Worte hatten keine Bedeutung mehr. Das Feuer bedeckte schon seine Hose und einen Ärmel seines Mantels. Er hatte noch die Kraft, seine Taschen zu durchforsten. Er wollte alles wegwerfen, was darin war, sich dessen entledigen, ganz gleich was es war. Er wollte sterben wie ein Bettler in einer Sagengeschichte, ohne jeden Besitz, den Mantel voller Sterne. Vergebung erfahren. Er holte ein Lotterielos hervor, an das er sich nicht erinnern konnte. Es schien ihm ein großartiges Rätsel, eine Zahl die womöglich das Geheimnis des Universums enthielt … Er übergab es dem Feuer, dem versengten Gras, fand sich damit ab, dass dieses Geheimnis ihm nicht mehr enthüllt würde – wer konnte schon im Augenblick des Verlöschens von sich behaupten, alles verstanden zu haben.“

Der Roman wird auch von einer Brandgeschichte eröffnet. Der Grill aux Alouettes brennt bis auf die Grundmauern nieder, dutzende Menschen kommen dabei zu Tode. In dem beliebten Lokal verkehrte Remouald bisweilen. So auch an jenem Tag als der Grill abbrennt und ihn kurz zuvor jemand fragt, ob er ihm wohl mit Streichhölzern aushelfen könne. Einige Tage nach dem Brand beobachtet Clémentine Clément die gegenüber wohnt, einen jungen und einen alten Mann im Rollstuhl in den Trümmern. Da sie auch drei ihrer Schüler auf dem Gelände sieht, kommt ihr sofort ein Verdacht. Sie schreibt anonyme Briefe an die Polizei und die Feuerwehr. Sie liebt den Feuerwehrhauptmann. Und auch den Schuldirektor. Die Kinder liebt sie ebenfalls, sie küsst sie mitunter herzhaft. Bei den Kolleginnen steht sie allerdings im Verdacht, ihre Schützlinge unnötig zu traktieren. Sie liebt auf ungewöhnliche Weise, nach außen zurückhaltend in erotischen Dingen, ist sie umso freizügiger in ihren Vermutungen über das, was die anderen treiben. Sie sieht Zusammenhänge wo keine sind. Clémentine sieht Verschwörungen und Unzucht. Sie sieht auch viele schöne Männer. Sie sieht unanständige Zeichnungen ihrer Schüler und sie sieht sie gemeinsam onanieren. Oder sie meint das alles zu sehen. Sie hält das nicht streng auseinander. Sie lügt, sie phantasiert, sie erinnert: Bekanntermaßen alles keine sehr verlässlichen Tätigkeiten. Sie erinnert sich an ihren ersten Mann, der eine Woche vor der Hochzeit tot war, an das Kind, das sie von ihm erwartete, das einen Tag nach der Geburt auch tot war. Am Ende der Entwicklung ist sie womöglich erneut schwanger, ob vom Feuerwehrhauptmann oder von einem ihrer minderjährigen Schüler … sie liebt die Kinder und die Männer auf eine schwer zu differenzierende Weise, überall Tod und Liebe und Verdacht.

„Sie verbrachten den Abend miteinander, redeten, tranken ein wenig, erfreuten sich an der Gegenwart des anderen, lachten sogar (ja, lachten!). So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er war wie ausgetauscht, war ausgelassen, umgänglich, aufmerksam, humorvoll. Genau genommen sprach der Hauptmann nicht viel, machte nur ab und zu eine grobe Bemerkung, aber er konnte zuhören, er bestärkte sie in ihrem Gefühl, ein wichtiger Mensch zu sein. Gut die Hälfte von dem was sie von sich erzählte, war zwar gelogen, aber es kam ihr nicht so vor, als würde sie in irgendeiner Weise täuschen; sie beschönigte ein wenig, weil es ein schöner Abend war. Sie machte keine Zeugenaussage vor einem Richter, sondern vollführte ein Pas de deux. Die Anmut schob sich tanzend vor die Wahrheit.“

Weder die Liebe, noch die Sexualität werden als erfüllend erlebt, nicht einmal als befriedigend, von den Frauen so wenig wie von den Männern. Der Feuerwehrhauptmann hat noch andere Interessen als mit der überspannten Clémentine Tee zu trinken und sich ihre Gedichte anzuhören. Er gibt der Witwe Racicot Schlafmittel und macht dann mit ihr, was er will. Zwei Schuljungen aus der Klasse der Lehrerin schauen durch eine Dachluke zu und bekommen Nachhilfeunterricht.

„Der Mann stand regungslos hinter ihr im Türrahmen. Seine muskulöse Brust war mit krausen Haaren überdeckt. In der Wölbung seiner Beine lag etwas Animalisches. Mit durchdringender Härte starrte er auf den Nacken der Witwe, als wolle er ihr einen Schlag darauf geben. Von kalter Wut getrieben ging er zum Bett, packte die Katzen beim Schwanz und warf sie aus dem Zimmer. Er ließ die Knöpfe seiner Hose aufspringen. Dann drehte er die Witwe auf den Rücken und riss ihr die Hose herunter. Er machte zwei, drei Kniebeugen, stieg seinerseits aufs Bett und kniete sich mit aufgerichtetem Geschlecht auf die unbezogene Matratze. Die Racicot bekam einen Lachanfall. Mit der Körperspannung eines Kunstturners legte er sich auf sie. Die Federn des Bettgestells fingen an zu quietschen.
Die Witwe lachte lauthals weiter wie ein dickes Tier, das gekitzelt wird. Sie hielt den Oberkörper des Mannes fest umschlungen, und je länger er sie bearbeitete, umso mehr veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, bis vages Entsetzen darin zu lesen war.
Gleichwohl schlief die Witwe kurz darauf ein. Ihr Partner konnte sie nur ab und zu mit einem verstärkten Beckenstoß wecken: Dann öffnete sie zu Tode entsetzt die Augen, stieß ein langes Brüllen aus, und ihre Lider fielen wieder zu. Der Mann hielt inne. Seine Lippen zitterten; ihm tropfte der Schweiß von den Haaren. Er drehte die Witwe wie einen Pfannkuchen um, hielt so gut er konnte ihren Pferdhintern hoch und nahm sie sich ungestüm wieder vor. Das Bett stampfte. Der Mann fluchte leise vor sich hin und schlug der Frau auf die Hinterbacken.
Die Stöße auf dem Bett waren noch auf der Galerie zu hören, wo Bradette unter der Decke derart erregt war, dass er seinen Kumpan ständig in die Seiten stieß. Rocheleau ließ es geschehen, ohne etwas zu sagen, benommen, stumpfen Blickes wie seekrank. Er konnte den Blick nicht vom Gesicht der Racicot abwenden, die mit der Nase ins Kissen gedrückt dalag und im Schlaf weiter vor sich hinmurmelte.“

Die Liebe ist nicht schön. Auch der Sex ist nicht schön. Die Kinder sind schön. Und gerade das ist ihr Vergehen. Schönheit ist ein Zeichen von Unschuld. Schönheit, die die Erwachsenen reizt an dieser Unschuld teilzuhaben. Solche Teilhabe bedeutet allerdings ihre Zerstörung. Unschuld steht vom ersten Moment an im Verdacht, nie vollkommen unschuldig, nie ganz rein gewesen zu sein. Unrein, weil von Unreinheiten umgeben. Die Kindheit ist bedroht von der Lust der Erwachsenen. So ist die Sehnsucht nach der Vergangenheit und der Unbeschwertheit jener Jahre, da man jung war und schön und kluge oder auch nur naive Fragen gestellt hat, hier immer doppelbödig. Diese Ambivalenz von Schönheit und Lust ist fatal, man liebt das Schöne und zerstört es durch seine Liebe. Will man jemand anderen vor dieser Liebe oder dem Sex bewahren, wie ein Vater seinen Sohn, wird alles nur noch schlimmer, Rocheleau ist, als sie den Feuerwehrhauptmann beobachten, lange nicht so erregt wie sein Freund Bradette, weil er sich dabei vor Schmerzen windet.

„Die Klammer war eine kleine Vorrichtung aus Metall, die sein Vater an seinem elften Geburtstag zwischen seinen Beinen angebracht hatte, um jene männlichen Regungen zu verhindern, denen kleine Jungen unterworfen sind und deren Anblick zu schmerzlich gewesen wäre für eine Mutter, die ihren Sohn vom Himmel herab mit so viel Wunderbarer Liebe bedachte.“

Man könnte diesen Roman (auch) darzustellen versuchen, indem man erzählt, dass ein gewisser Rogatien als Kind an eine Mauer schreibt: „Ich gehöher für imer Justine Vilbroquais“. Dieser Rogatien, der in seiner ersten Hinterlassenschaft an die Welt noch nicht recht-schreiben konnte, wird in späteren Jahren Romanschriftsteller, der der Geliebten seiner Kindheit einen Brief schreibt. Er will sie wiedersehen, wenn sein Roman beendet ist: am 22. Dezember. An diesem Tag wird (auch) „Die Unbefleckte Empfängnis“ vollendet.

Es gibt eine Wirklichkeit in diesem Buch, aber sie ist schwach ausgeprägt. Die Ereignisse finden zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts statt, in einem Stadtteil Montréals. Bereits die Wahl der meisten Figurennamen orientiert sich nicht mehr an dieser Wirklichkeit. Auch die Ereignisse sind oft eine Spur neben der Realität. Von einem Balkon fiel „ein Stück Fell und landete direkt vor seinen Füßen, stieß dann einen fürchterlichen Schrei aus und schoss wie ein Pfeil unter die Galerie.“ Vater und Sohn Tremblay schlafen in einem Bett. Das Essen wird dem einen vom anderen vorgekaut, der Alte empfängt es mit in den Nacken gelegtem Kopf aus dem Mund seines Sohnes. Als einer der Schüler Clémentines im Sterben liegt, schneidet sich dessen Mutter mit einer Klinge den Handballen auf und lässt ihren Sohn das Blut trinken.

Mir ist dieses Universum etwas zu dunkel, zu viele Tode, zu viele Waisen und zu viele intellektuell oder emotional beschädigte Figuren. Die wenigen hellen Lichter die der Autor seine Figuren anzünden lässt, verglühen mir zu schnell. Es ist mir auch eine Nuance zu brutal: nachdem Wilson dem kleinen Remouald ein Essen zubereitete, bittet er ihn in einem Sack nachzuschauen, was er gegessen hat. In dem Sack steckt der Kopf seiner Schwester. Die Stärke dieses Textes liegt darin, dass er viele mögliche Zusammenhänge anbietet, die er nicht wertet. Aber das ist auch seine Schwäche. Ich wünsche mir als Leserin zumindest einen kleinen Überhang an Realität. Aber das ist Geschmacksache und vielleicht ist diese Unverbindlichkeit das, was der Autor als Kennzeichen von Realität empfindet.

Das sind alles möglicherweise sinnvolle Bezüge. Mehr als die Möglichkeit dazu, scheint kaum sinnvoll zu sein. Der Sinn muss sich frei bewegen können, er muss sich im Netz möglicher Bedeutungen verfangen können. Einmal arretiert, wird er ausgeschaltet. Bedeutungen erfolgen aufgrund von Zuschreibungen, und möglicherweise auch mangelnden Zuschreibungen. Umstände jedenfalls, die die Dinge nicht mit sich bringen. Die Dinge sind nackt. Ins Kleid der Bedeutung können sie nur durch unsere Zuschreibungen gesteckt werden. Durch Zusammenhänge, die wir konstruieren. Zu viele Zusammenhänge können allerdings auch aufs Gemüt schlagen, das zeigt das Beispiel der Lehrerin. Zuviel Konstruktion oder zu wenig, beides ist nicht gut für den (literarischen) Verstand. Vielleicht ist die sinnlose Szene mit dem Kalbsschnitzel, vielleicht ist Sinnlosigkeit überhaupt, eine bessere Beschreibung der Welt. Besser, weil sinnvoller.

Das ist ein empfindliches Universum, das uns Gaétan Soucy hier präsentiert. Wie ein Lotterielos mit einer Zahl darauf, die eine Niete oder einen Hauptgewinn bedeuten kann, eine Zahl „die womöglich das Geheimnis des Universums enthielt“; die, ebenso gut möglich, nichts als eine Zahl ist, eine 22 vielleicht, die nichts bedeutet, die keinerlei Sinn produziert. Das ist ein Universum ohne Zentrum. Eines, in dem die Bedeutungen bisweilen aufblitzen und gleich wieder verglühen. Es gibt eben solche und solche Romane. Und genau so einer ist das.

Gaétan Soucy
Die Unbefleckte Empfängnis
Übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010
ISBN-13 9783882215304
Gebunden, 331 Seiten, 22,90 EUR

Kurztitel & Kontexte bis 2011-06-26

Kurztitel & Kontexte bis 2011-05-22

Kolibri und Nymphe

Manteles Kolibri
Manteles Kolibri • © M. Rietze (2008)

Jener Mann, der mit freudiger Neugier auf mich zukam, erschien mir zunächst wie eine Karikatur, eine erbarmungslose Überzeichnung. Er war mit einem Körper geschlagen, an dem nichts zusammenpasste. Er musste als Kind unter Polio gelitten haben. Für jemanden seiner Generation, er war vielleicht zwanzig Jahre älter als ich, war das sehr ungewöhnlich. Sein linkes Bein war deutlich verkürzt und steif, ebenso sein linker Arm und seine linke Hand, die Hand eines Kindes, die er allerdings leicht und sogar anmutig bewegen konnte und mit der er mich einladend in sein Büro winkte. Er trug orthopädische Schuhe, deren unterschiedlich dicke Sohlen die Diskrepanz seines Wuchses ausgleichen mussten. In der Rechten hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem Griff, ein Kolibri, wie ich später bemerkte. Als er sich umdrehte, sah ich, dass auch sein Rücken verformt war. Ein deutlicher Buckel zeichnete sich zwischen den Schulterblättern ab. Ich zögerte, ihm zu folgen, und er merkte es, drehte sich um, winkte noch einmal, lächelte und sagte in völlig unbeschwertem Ton: Kommen Sie, man gewöhnt sich daran.

Zutiefst beschämt, da er mein Taxieren, das ich selbst von anderen nur zu gut kannte und hasste, bemerkt hatte und dennoch mit einer Leichtigkeit darüber hinwegging, zu der ich selbst nie in der Lage gewesen war, folgte ich ihm. Dank seiner Schuhe und des Stocks ging er flüssig und aufrecht, beinahe energisch. Er steuerte auf eine Sitzgruppe im Eck seines Büros zu, bat mich, die Tür zu schließen und mich zu ihm zu setzen. Er zog eine goldene Savonette-Taschenuhr aus seiner Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und verkündete nach einem vergewissernden Blick, dass wir leider nur zwanzig Minuten hätten.

Dieses Mal, sagte er. Und er lächelte erneut unbefangen und gewinnend und setzte sich.

Als er den Deckel der Uhr schloss, rieb er kurz mit dem Daumen über das erhaben auf dem Deckel prangende Bild einer Nymphe. Seine Nägel waren perfekt manikürt und poliert. Mir fiel auf, dass seine Schuhe trotz der unterschiedlich dicken Sohlen ausgesucht elegant wirkten und wie nagelneu oder doch penibel gepflegt. Auch der Anzug musste maßgeschneidert sein, denn dem verformten Körper zum Trotz saß er perfekt. Um es kurz zu machen: Ich hatte einen Mann vor mir, der vermutlich nicht leicht an seinem körperlichen Los trug, dies aber mit Würde und zumindest scheinbarer Unbeschwertheit tat. Es kam mir vor, als hätte er seinem geschundenen Körper durch Zuwendung, schöne Kleidung und Accessoires eine Hülle geschaffen, die alle Unebenmäßigkeit und Beschwerlichkeit ausglich. Was für ein trotziges Statement, sich auf einen Gehstock mit Kolibri-Griff zu stützen! Welch Selbstverständnis, eine Nymphe zu liebkosen, wann immer man sich hatte vergewissern müssen, dass und wie viel Zeit vergangen war!

Manteles Kolibri
Lampornis calolaemus (Purpurkehlnymphe)

Unser Gespräch dauerte nicht einmal die angekündigten zwanzig Minuten. Er ließ mich wissen, dass er meine bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten aufs Genaueste verfolgt hatte und dass es ein Akt beispielloser Arroganz sei, mich als Entwickler bei ihm zu bewerben. Ich hätte, sagte er, genau zwei Möglichkeiten: ab sofort ein Team seiner Forschungsabteilung zu leiten oder aber augenblicklich zu verschwinden und ihm nie wieder unter die Augen zu kommen.

Das war meine erste Begegnung mit Professor Matana.

Ich brauchte keine Bedenkzeit. Dieser Mann, das spürte ich, würde mein Leben verändern. Vielleicht hatte er es durch seine bloße Erscheinung bereits getan, und ich wagte mir nicht auszumalen, was ich noch alles durch ihn entdecken würde. Also reichte ich ihm die Hand und sagte: Abgemacht. Damit war er zufrieden und lächelte wieder, diesmal spitzbübisch.

Sie sind also lernfähig, sagte er: Das ist noch ein Plus. Allerdings, setzte er hinzu, gebe es eine Bedingung, über die er nicht verhandeln könne.

Und die wäre? fragte ich.

Ich bestehe darauf, sagte er, dass Sie sich vorzeigbar machen. Wenn ich mit Ihnen arbeite, muss ich mich auch mit Ihnen sehen lassen können.

Dieser Satz traf mich wie der wohl gezielte Schlag eines Profiboxers. Es war ja nicht irgendwer, der mir damit deutlich zu verstehen gab: Ich kann nichts mit dir anfangen, wenn du dir selbst nichts wert bist.

aus: »Pan schweigt«,
© Benjamin Stein (2011)

 

Kurztitel & Kontexte bis 2011-03-27

Kurztitel & Kontexte bis 2011-02-05

Phyllis Kiehl

Phyllis Kiehl, Künstlerin, geboren 1966 in Bensheim, Bergstraße, Studium an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, lebt und arbeitet in Frankfurt und Paris.

Medien: Text, Zeichnung, Fotografie, Skulptur/Installation.

Veröffentlichungen von Erzählungen und Prosatexten, u.a. bei Stroemfeld/Roter Stern, Metronome Press und die horen, Atelierstipendium d. Hessischen Kulturstiftung in Paris, Veröffentlichung des Romans „Fat Mountain“ bei Metronome Press 2004. Ausstellungen und Lesungen u.a. Literaturhaus Frankfurt, Fridericianum Kassel, Historisches Museum und Schirn Kunsthalle Frankfurt. Konzipiert und hält im Auftrag mehrerer Stiftungen Schreibseminare für ausländischstämmige Jugendliche. Betreiberin des Weblogs „Tainted Talents – Ateliertagebuch“. 2010 erschien bei die horen „Der Sprung über die Kante / Das Schreiben als Kunst“ die Erzählung „Lamu Tamu“.

Ich hab gerade eine schnelle Idee für eine Frage, die Millionen Sporen abwerfen würde: Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht hier nicht um Beziehungen. Schon gar nicht um Grobmaschiges. Es ist nur ein Beispiel. Also: Gesetzt den Fall, ich erhöbe mich abends um neun vom Schreibtisch. Nähme meinen Wohnungsschlüssel vom Haken, packte ihn in einen Briefumschlag und schriebe darauf: ‚Phyllis Kiehl. Bleiben Sie fünfzehn Minuten. Sprechen Sie nicht mit mir. Nehmen Sie nichts mit. Hinterlassen Sie mir eine Frage, bevor Sie gehen. Jetzt!‘

Ich verschlösse den Umschlag, öffnete mein Fenster und würfe den Umschlag samt Schlüssel hinunter auf den Gehweg.

Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einträte, der verstünde? Was gäbe es denn zu verstehen? Schläft die bestmögliche Frage in jedem Menschen, bedürfte es nur eines Zauberworts, einer unwägbaren Situation, um sie zu extrahieren? Wie hoch wäre das Risiko, so etwas zu tun?

Sie sehen, haufenweise Sporen.

Litblog / URL:
Tainted Talents
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https://taintedtalents.de/